Jemma Wayne: Der silberne Elefant, Aus dem Englischen von Ursula C.Sturm, Eisele Verlag, München 2021, 432 Seiten, €24,00, 978-3-9616-1105-8

„ Mrs. Hunter saß im Bett, ein Buch in den Händen, doch ihr Blick war starr auf die aufgeschlagenen Seiten gerichtet, starr darüberzuwandern, als würde sie gar nicht lesen. Emily erfasste schlagartig, dass sie hier eine Frau vor sich hatte, die in zwei getrennten Welten lebte: eine, die man mit den Augen sehen konnte, und eine, zu der nur ihre Gedanken Zutritt hatten, in etwa so, wie Emily es von sich selbst kannte.“

Emilienne nennt sich in London der Einfachheit halber Emily. Hier hat sie nach ihrer Flucht als Angehörige der Tutsi aus Ruanda eine Weile bei Onkel und Tante gewohnt. Aber diese waren nicht in der Lage die junge Frau, deren schreckliche Erlebnisse und grausigen Erfahrungen als Kind und Jugendliche während der Massenmorde und Vergewaltigungen in ihrem Land, zu verstehen. Immer öfter verfolgen Emily die wunderbaren Kindheitserinnerungen an die Brüder und die Eltern und die Bilder von deren Ermordung vor ihren Augen, immer öfter muss Emily sich in sich zurückziehen. Immer wieder denkt sie an die Rasierklinge im Schrank unter der Spüle. Nun hat sie eine Ausbildung als Altenpflegerin und Reinigungskraft abgeschlossen und wohnt allein in einem anonymen Sozialwohnblock.
Auch Vera verfolgen quälende Bilder und Erinnerungen. Als sie einst während des Studiums Charlie kennenlernt, wird er nicht nur ihre große Liebe, sondern auch ihr Dealer. In einer On – Off – Beziehung ziehen die beiden sich immer mehr in die Tiefe. Vera wird schwanger, lässt Charlie aber in dem Glauben, dass sie abgetrieben hat. Als das Kind zur Welt kam, hat sie es vor ein Kinderheim abgelegt. In einer Zeitungsmeldung musste sie jedoch ein paar Tage später lesen, das ein Baby vor einem Heim nach drei Tagen gestorben ist. Mit dieser Last lebt die junge Frau nun eine Zeit. Sie flieht in den Glauben und zu Luke, einem ebenfalls gläubigen Christen, der Vera heiraten will und Sex vor der Ehe ablehnt. Luke arbeitet im Ministerium, seine verwitwete Mutter Lynn wohnt in einer Stadtvilla in einem Nobelviertel Londons. Als Luke und Vera der Mutter mitteilen, dass sie heiraten werden, reagiert diese kaum erfreut. Vera glaubt, dass Lynn das Böse in ihr sieht.
Doch Lynn offenbart dem Sohn, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Um Buße zu tun, erlegt sich Vera auf, die künftige Schwiegermutter, die sie eindeutig ablehnt, zu pflegen. Lynn selbst ist zerfressen von der eigenen Vorstellung, ihr Leben nicht richtig gelebt zu haben. Im Studium hat sie ihren Mann Philip kennengelernt, schnell geheiratet und dann nie wieder ihr Geschichtsstudium aufgenommen. Mit Kindern, Küche und Kirche war sie ausgelastet, die Karriere hat sie ihrer Meinung nach verpasst. Als Vera ihr dann auch noch mitteilt, dass sie ihren Job nicht für die Pflege aufgegeben wird, sondern ein Sabbatical nimmt, kann Lynn nur zynisch reagieren. Als Vera ihr dann auch noch erzählt, dass sie angeblich einst abgetrieben hat und sie beim Malen stört, endet der persönliche Kontakt der beiden Frauen mit einem Eklat. Luke jedoch ist von seiner Verlobten enttäuscht, da sie nun Lynn nicht mehr umsorgen will. Als die Söhne Luke und John der kranken Mutter dann auch noch Emily von Home Care aufdrücken, vergisst die bärbeißige Lynn ihre gute Erziehung. Kaum, dass sie Emily gesehen hat, unterstellt sie ihr, dass sie genau wisse, wo ihre Wertsachen seien und bezeichnet die junge Frau als Kakerlake, so wie die Hutu-Milizen die Tutsis bezeichnet haben. Nach dem ersten Tag in Lynns vollgestopftem Haus nimmt Emily einen silbernen Elefanten einfach mit nach Hause.
Vera, Emiliy und Lynn – drei Frauen aus sozial völlig unterschiedlichen Klassen, drei sehr tragische Schicksale.
Lynn wird in Emily bald eine junge Frau erkennen, die sensibel, klug und vor allem völlig traumatisiert ist. Auch wenn Emily sich sträubt, so möchte Lynn aus der Upper Class doch mehr über sie und ihr Leben vor der Flucht nach England erfahren.

„Ihre Aufgabe war es, Emily zu helfen. Deshalb musste sie unaufhörlich an sie denken. Vielleicht war Emily deshalb bei ihr gelandet, dachte Lynn. Vielleicht hatte sie deshalb, diese üble Krankheit bekommen. Viel zu früh. …. Dies könnte ihre Chance sein, Spuren zu hinterlassen in dieser Welt, im Leben -… „

Nachdem Vera wieder mit Charlie Kontakt hat, auch wenn sie sich dafür schuldig fühlt, und ihm von dem Sohn erzählt, bekommt dieser heraus, dass das Kind noch lebt.

Die englische Autorin Jemma Wayne hat einen ergreifenden Roman über Schuld, Unschuld, Gewalt und Vergebung geschrieben. Ihre literarischen Figuren sind absolut plastisch. Auch wenn viele Szenen des Romans unerträglich sind, so läuft die Handlung vor dem inneren Auge des Lesenden ab und berührt bis zur letzten Seite unendlich tief.