Sarit Yishai-Levi: Das Meeresblau von Tel Aviv, Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 555 Seiten, €24,00, 978-3-351-03822-9

„Mir war so klar wie der Umstand, dass die Sonne jetzt im Meer versank und die Erde sich um die Sonne drehte: Um mich selbst zu lieben, musste ich erst mal meine Mutter lieben, die einzige unmögliche Mutter die ich hatte, Lily.“

Elija Zoref reist 1973 ihrem Ehemann Ari nach Paris nach. Hier in der Stadt der Liebe erfährt sie, dass ihr Mann, den sie als Schriftsteller bewundert, wenig Interesse an ihr hat. Er lässt sie allein, schiebt seine Arbeit vor, kümmert sich nicht um sie. Dabei hätte schon die lieblose Hochzeit Elija die Augen öffnen können. Sie studiert nicht weiter, damit sie sich wie eine Sekretärin um Aris Karriere kümmern kann. Er verdient kaum Geld, sie pumpt ihren Vater Schaul, der mit seinem Juweliergeschäft kaum Umsatz macht, an und am Ende ist nicht Elija Aris‘ Muse, sondern eine Französin. Am heftigsten regt sich Elijas Mutter, Lily, über den Nichtsnutz von Schwiegersohn auf. Dabei wollte Elija unbedingt mit diesem Mann zusammenleben, um ihrem Elternhaus endlich zu entfliehen. Tief stürzt die junge Frau, die sich eine ungesunde Abhängigkeit zu Ari begeben hat, in eine Depression, aus der sie nur mit Hilfe des Psychiaters Dr. Amir Kaminski herausfindet. Wieder bei den Eltern untergetaucht, weiß die junge Frau nicht, wie es weitergehen soll. Als sie einen Selbstmordversuch verübt, ahnt auch Lily, dass ihre Tochter mehr als verzweifelt ist.

Lily, das ist von Anfang an klar, ist eine sehr komplizierte, extrem streitbare Figur. Ihr Mann Schaul liebt sie und erträgt wie durch ein Wunder alle ihre hysterischen, zornigen Ausbrüche. Elija ist ein Papakind, denn die Mutter konnte sich der Tochter nicht nähern. Lily verbietet der Tochter jeglichen Kontakt zu anderen Kindern, unterbindet auch Schauls Besuche bei den Eltern und Verwandten und wenn sie mit ihrer Familie spricht, dann kann sie nur im Befehlston kommunizieren. Sie verbringt ihre Zeit lieber am Grab ihres verstorbenen ersten Kindes. Dessen früher Tod liegt wie ein Schatten über Elijas Leben.

Erzählt Sarit Yishai-Levi zuerst aus der Perspektive von Elija, so ändert sich nun der Blickwinkel und wendet sich Lilys Leben zu. Niemand darf wissen, dass Lily ein Findelkind ist. Aufgewachsen ist sie einsam und verlassen im katholischen Kloster. Hier erfährt sie von ihrer jüdischen Herkunft, flieht und lebt als Straßenkind bis sie wieder in ein Heim kommt und dann später Schaul kennenlernt. Völlig hörig und abhängig von einer arabischen Wahrsagerin kann Lily kein eigenes Leben führen, obwohl ihr Mann alles für sie tut. Hart gegen sich und ihre Umwelt entwickelt sich Elijas Mutter zu einer egozentrischen Furie, nachdem ihr Kind gestorben ist. Schaul ist völlig zerrissen zwischen seiner stürmischen Tochter und seiner zornigen Frau.

Der Leser ahnt, dass Lily völlig traumatisiert nach dem emotional so schweren Verlust ihres ersten geliebten Kindes, große Angst davor hatte, ihr zweites Kind wirklich zu lieben. Doch was dies für ein Kind bedeutet, keine fürsorgliche Mutter zu haben, hätte sie eigentlich wissen müssen. Alles hängt mit dem Verlassensein zusammen, diesem nicht Wissen woher man kommt, wer die Eltern sind.
Auch Schauls Familie ( Familienmitglieder sind in Treblinka umgekommen. ) hasst Lily vom ersten Tag an, denn die junge Frau hat keine Familie. Niemand geht auf sie zu, außer Schaul, der der Anker ihres Lebens ist.

Wie sich Elija und Lily dann doch noch versöhnen und einander verzeihen können und nach der Mutter von Lily suchen, liest sich bewegend und psychologisch überzeugend. Alle Figuren sind plastisch dargestellt, widersprüchlich in ihrem Handeln und doch so lebendig. Es ist das ewige Schweigen, das über den Generationen liegt und niemandem hilft, ganz im Gegenteil.

Sarit Yishai-Levi hat einen umfangreichen Roman geschrieben, in dem auch das Meer und Tel Aviv eine Rolle spielen, aber auch die politisch angespannte Lage in Israel, das Zusammenleben der Juden, aber auch die Zeit, in der die Engländer in der Region stationiert waren.