Monika Held: Sommerkind, Eichborn Verlag, Köln 2017, 222 Seiten, €20,00, 978-3-8479-0626-1

„Alle verband das Ungeheuerlichste, was es gibt: Sie haben mit dem Tod gekämpft und gewonnen. Sie haben einen Sieg errungen, der niemanden wirklich glücklich macht.“

Wie verläuft das Leben eines Jugendlichen, dessen Geschwisterkind in seiner unmittelbaren Nähe durch einen Unfall in eine Koma gefallen ist? Malu, das Sommerkind, wird nie ein normales Leben führen können. Ab dem Moment wo der fünfzehnjährige Kolja die sieben Jahre jüngere Schwester Malu nicht vor dem Schwimmen am Abend im Freibad abhält, verändert sich alles. An diesem Abend sitzt er auf einer Bank. Ragna, in die er verliebt ist, kommt vorbei, geht ins Meer schwimmen. Erst ihre Frage nach Malu lässt die beiden aufhorchen und das Kind aus dem Schwimmbad retten. Doch zu spät, das Gehirn ist bereits geschädigt.

Gut fünfundzwanzig Jahre später geht Ragna ganz persönlich im Rahmen eines Forschungsprojektes einer bestimmten Frage nach. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Topografie der Kindheit, dem Verlauf des Lebens und dem Wohnort in den letzten Lebensjahren?\r\nIst es wirklich so, dass Menschen an die Orte ihrer Kindheit zurückkehren? Als Ragna ihre Erinnerungen durchgräbt, taucht plötzlich dieser blonde Junge mit den grauen Augen und dem schönen Namen Kolja auf. Sie erinnert sich an diesen tragischen Abend mit ihm und seiner Schwester Malu und doch fehlt ihr der Teil nach dem Unfall.

Monika Held erzählt aus zwei Blickwinkeln. Ragna ist die Ich-Erzählerin, aus Koljas Sicht berichtet ein Erzähler aus der Er-Perspektive. Der Leser folgt nun zeitversetzt Kolja wie Ragna.

Der Junge fühlt sich schuldig an dem Unfall seiner Schwester. Die Eltern bringen es wirklich fertig, besonders die Mutter, dem Kind das Gefühl zu vermitteln, er habe die Verantwortung für das Schicksal seiner Schwester. Zur Strafe muss er Malu im Krankenhaus, die Eltern sind von der See in den Süden gezogen, zweimal die Woche besuchen. Kolja, ein begabter, nun in sich gekehrter Junge, reagiert mit Abwehr auf die Schwester. Er widmet seine Liebe eher einem kleinen Jungen, den die Mutter vom Wickeltisch hat fallen lassen. Von der Mutter kaum beachtet, bleibt das Kind mit seinem Schmerz allein.

„Die leise Höflichkeit dieses Hauses war wie Gehen auf dünnem Eis.“

Der Vater sucht sich eine neue Frau, ein neues Leben und zeugt ein neues Kind. Der Sohn fühlt sich verraten. Ein Zuhause findet Kolja bei Max, einem fröhlichen Jungen, der auf der Station seinen Cousin besucht und langsam ahnt, dass er schwul ist. Kolja kann diese Empfindung nicht teilen, braucht aber den Jungen fürs eigene Überleben. Das dumpfe Schweigen der Eltern ist die größte Belastung für den Jungen, dessen Schwester nie wieder die alte sein wird.

„Ich bin krank vor Neid auf alle Kinder, die von ihren Eltern geliebt werden…“

heißt es an einer Stelle. Da hatte Kolja, der sich als Abiturient mit Autoren befasst hat, die Selbstmord begangen haben, bereits in die Tiefe gestürzt. Er überlebt den Suizidversuch und wird später seine Doktorarbeit ebenfalls dem Suizidthema in der klassischen Literatur widmen.

Ragna sucht nun nach und nach die Leute aus dem Umfeld von Kolja, der wieder an die Nordsee zurückgekehrt ist, auf, um sich langsam ihren Erinnerungen zu nähern. Sie trifft sich mit Max, der nun keinen Kontakt mehr mit Kolja hat, sie durchlebt schwere Stunden mit Koljas emotionsloser Mutter und Malu, dem Sommerkind, das in seiner eigenen Welt lebt. Aber Ragna kommt bei ihren Recherchen und der eigenen Geschichte einfach nicht weiter.

„ Ich brauche den erwachsenen Kolja, um zu verstehen, warum ich mich an das Stück Leben, das ich verloren habe, nicht erinnern kann.“

Schmerzlich klar erzählt Monika Held in einer wunderbar literarischen Sprache von Menschen in Extremsituationen und wie sie diesen mit Schuldzuweisung, Flucht oder auch Aufopferung begegnen. Atemlos beim Lesen folgt man Ragnas Suche, aber auch Koljas einsamem Weg durch die Untiefen des Lebens. Beide werden sich auf der Hallig begegnen, aber da ist der Leser nicht mehr anwesend, den vieles, nicht alles, ist zwischen den Zeilen bereits gesagt.