Jan Weiler: Kühn hat Hunger, Piper Verlag, München 2019, 413 Seiten, €22,00, 978-3-492-05876-6

„Bereits auf dem Weg zur Weberhöhe stieg Scham in ihm hoch. Diese Diät veränderte ihn, nicht unbedingt zum Guten. Wie kam er eigentlich dazu, seine Kinder anzubrüllen? Und warum drehte er durch, bloß weil jemand seine Avocado gegessen hatte? Er kam sich direkt kindlich vor, als habe ihm jemand im Sandkasten das Förmchen weggenommen. Und außerdem war es gar nicht seine Avocado.“

Martin Kühn, Anwärter auf den Posten des ersten Kriminalhauptkommissars wird mit seinen fünfundvierzig Jahren langsam dick. Das Bindegewebe ist leicht schwabbelig und die Konflikte, gerade mit seiner Frau führt er auch darauf zurück, dass er für sie als Mann nicht mehr attraktiv ist. Männlichkeit, die Rolle des Mannes in der Familie und Gesellschaft, der Mann als Herr des Geschehens, der die Richtung angibt – darum kreist dieser unterhaltsame Krimi, der wie immer von einem speziellen Fall und auch Kühns Familienleben in seinem langsam vom Schimmel zerfressenen Keller erzählt. Aber die Hausgemeinschaften auf der Weberhöhe haben inzwischen eine Sammelklage gegen Reformbau in den USA auf den Weg gebracht und hoffen auf eine hohe Entschädigungssumme.

Kühn ackert momentan an vielen Fronten. Zum einen hat er sich die Streitschrift eines Belgiers namens Ferdie Caparacq zu Gemüte geführt. Dieser plädiert für eine Diät, die den wahren Mann wieder auf die Beine stellt und ihm das alte Selbstbewusstsein zurückgibt, was ihm irgendwie im Laufe der letzten Jahre mit der zunehmenden Konkurrenz durch Frauen verlorengegangen ist. Mit ekligen Matchosprüchen baut dieser Männerversteher in seinem Traktat den Leser auf, liefert ihm eine Anleitung in Sachen Speckabbau, sicherem Auftreten als Mann mit passender Kleidung. Auf der anderen Seite muss sich Kühn gegen seinen Konkurrenten, Thomas Steierer, durchsetzen, der sich ebenfalls für die ausgeschriebene Stelle beworben hat. Und dann nervt ihn noch die fortschreitende Technik, zumal ihn sein Sohn Nico als „analogen Greis“ bezeichnet. Kühn ermannt sich nun und startet die radikale vier Tage Hungerdiät, die ihn zunehmend an den Rand des Wahnsinns treibt. Plötzlich wird ihm bewusst, wie viele Geschäfte ihn zum Essen animieren und außerdem stehen auch noch auf dem Konferenztisch bei Besprechungen Kekse, denen er früher nie widerstehen konnte. Aber Kühn bleibt auch nach den vier Tagen bei heißem Wasser mit Ingwer, Gemüsebrühe und trockenem Blumenkohl stark und hungrig.
Ein neuer Fall lenkt etwas ab, denn eine Frauenleiche wurde auf einer Baustelle in Obermenzig gefunden.
Parallel zu Kühns Privat- und Arbeitsumfeld lenkt Jan Weiler den Blick zu einem jungen Polizisten. Sebastian Pflug, Anfang zwanzig, arbeitet im Hauptbahnhof. Er ist ganz vernarrt in den Duft der jungen Frauen, die in den Tabledancebars die Männer zum Trinken und Gaffen verführen. Noch wohnt der junge Mann bei seinen Eltern außerhalb von München, noch wünscht er sich eine Freundin, eine eigene Familie. Auch außerhalb seiner Dienstzeit stalkt der Mann die Frauen, er würde sagen, er beschützt sie. Pflug trifft im Hauptbahnhof auch einen Frauenbeobachter und offenbar Seelenverwandten, Hartmut Gärtner, der auf einem Campingplatz wohnt. Beide Männer freunden sich an und das Unheil ist vorprogrammiert.

Während für Kühn die Ermittlungsarbeit beginnt, weiß der Leser bereits, was mit dem Opfer geschehen ist und wo die beiden Männer die junge Frau aus Estland kennengelernt haben.
Während Kühn die Anweisungen vom belgischen Einpeitscher befolgt und immer grummeliger wird, arbeitet er sich langsam an den Fall heran. Steinchen für Steinchen wird umgedreht, bis klar wird, woher die junge Frau stammt und wo sie in München gearbeitet hat. Auch die Umstände ihres Todes werden rekonstruiert. Berührend, und hier bleibt Kühn im Gegensatz zu Steierer Mensch, sind die inneren Monologe, die der Ermittler mit dem Opfer führt. Als Täter schält sich ein Männertyp heraus, der in der Fachsprache als Incel bezeichnet wird, d.h. unfreiwillig enthaltsam. So nennen sich Männer, die keine Frau abbekommen und denen der Sex ihrer Meinung nach verweigert wird.

„Noch viel mehr als vögelnde Männer verabscheuen sie aber die Frauen, die sie nicht kriegen können. Also praktisch alle.“

Aber nicht nur Kühn verfolgt seine Spuren, auch der Betreiber der Bars am Hauptbahnhof, Arslan Avi, für den Frauen eigentlich nur Waren sind, macht sich auf die Spur von Sebastian Pflug. Er will nicht für etwas verurteilt werden, was er ausnahmsweise mal nicht begangen hat.
Mit psychologischer Beobachtungsgabe, viel Sympathien für den gebeutelten Mann und ohne große Herumratereien, wer denn nun der oder die Täter sind, laufen die Ermittlungen extrem unterhaltsam in diesem Fall auf eine Katastrophe zu. Wie immer bleibt man als Leser gern an Kühns Seite und leidet mit ihm mit. Seine Probleme sind für jeden Mann und auch jede Frau nachvollziehbar und seine Schwächen einfach nur menschlich. Seine Stärken, sich selbst mal in Frage zu stellen und an seinen technischen Defiziten zu arbeiten, machen ihn so sympathisch. Auch wenn die höher dotierte Stelle eine Frau bekommt, Kühn klagt nicht. Ganz im Gegenteil, vielleicht kittet ja gerade diese Personalentscheidung seine alte Männerfreundschaft zu Steierer.

Kühn muss unbedingt weitermachen, denn irgendwie will man doch wissen, wohin er und seine Familie in den Urlaub fahren. Auch ohne Geldsegen aus den USA!