Dörthe Binkert: Jessicas Traum, Deutscher Taschenbuch Verlag premium, München 2016, 250 Seiten, €14,90, 978-3-423-26109-8

„Ich habe immer bewundert, wie gut Jess mit Menschen umgehen kann. Die Leute vertrauten ihr sofort; man hat einfach das Gefühl, man könne ihr alles sagen. Sie selbst hat mit niemandem darüber gesprochen, warum sie nicht mehr leben wollte. Nicht einmal mit mir.“

Ann kann es nicht fassen, ihre Freundin hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und Tabletten genommen. Dabei hat sie doch mit ihrem Mann Nick ihren Traum gelebt, den Traum vom freien, unabhängigen Leben in der unberührten Natur Wales. Kennengelernt haben sich die beiden deutschen Frauen beim Studium in London. Es war wie magische Anziehung und ein Verstehen auf den ersten Blick.
Als Jessica dann Nick in einem Pub trifft und beide einander kennenlernen, ist es die große Liebe. Jess lässt alles hinter sich. Sie beendet ihr Studium nicht, sondern zieht mit Nick in ein ziemlich verfallenes Cottage in Wales, das Graig Ddu genannt wird.
Beide haben kaum Geld, leben von staatlicher Unterstützung. Nick malt wie besessen, ihn fasziniert die Stille, die betörende Landschaft. Doch wie lebt es sich wirklich ohne Strom, ohne Wasser, ohne Auto und abgelegen von aller Zivilisation?
Wenn Tess in den kleinen Ort gehen will, dann hat sie eine lange Laufstrecke vor sich und sie kann nur hoffen, dass sie jemand mitnimmt. Nur ein Geländewagen schafft die Auffahrt nach Graig Ddu. Als Tess dann schwanger wird, ist die Freude groß, doch das Leben wird immer schwerer. Niemand aus Tess‘ Familie besucht sie, denn sie hat eigentlich nur noch die ziemlich strenge Oma, die sie auch großgezogen hat. Als Tess klein war, hat die Mutter sie verlassen, angeblich für einen Mann. Den engsten Kontakt pflegt die junge, lebensfrohe und sehr attraktive Frau zu ihrer Freundin, aus deren Sicht die Geschichte auch erzählt wird.

Ann geht ihren eigenen Weg als Kunsthistorikerin. Die Idee für einen Mann alles aufzugeben, käme ihr nicht in den Sinn. Dann erhält Ann die ersten Briefe von Jess, die sie leicht verunsichern. Die Freundin kann die einsamen Wintermonate nicht mehr ertragen. Langsame Schwermut schleicht sich in ihr Leben, auch wenn sie ein fröhliches aufgewecktes Kind hat. Nick vergräbt sich in seiner Malerei, hat eine erste Ausstellung und pflegt sein Image als Künstler ohne Bedürfnisse. Dabei ist er ein eifersüchtiger Ehemann und missgönnt seiner Frau jeden noch so kleinen Luxus.
Tess hat sich zwar mit Leuten aus dem Ort angefreundet, aber sie ordnet sich in allem ganz Nicks Wünschen unter. Der allerdings hat im Ort die Buchhändlerin mehr als nur ins Herz geschlossen. Das verrät er Ann, als Jess erneut schwanger, ihr Kind verliert und nun seltsame Dinge über sich erzählt. Nick enttarnt in gewisser Weise seine Doppelmoral. Aber Ann kann sich nicht um Nicks Befindlichkeiten kümmern.\r\nSie muss endlich Tess\‘ Tagebuch lesen, dass Nick ihr ausgehändigt hat, um endlich zu verstehen, warum die Freundin keinen Ausweg sah.

„Nick wollte sich auf keinen Fall den Zwängen der Gesellschaft beugen. Aber der Natur unterwarf er sich. Immerhin, das war eine freie Entscheidung…. Aber stimmte das Gleiche auch für Jess? Auch ohne ihre Liebe zueinander infrage zu stellen – sie waren immer noch zwei unterschiedliche Wesen, auch wenn sie dachten, sie seien eins.“

Trotz Hühnern, Hund, Kind und Mann – die kontaktfreudige Tess kann das Eremitenleben nicht mehr ertragen. Sie kann aber auch nicht zurück, glaubt sie. Ihre Depressionen verstärken sich im Winter und schlagen von Lethargie auch um in Aggression, mal gegen ihre Tochter, mal gegen sich. Hat ihr Mann ein erfülltes Leben, ist sie mittlerweile weit davon entfernt. \r\nAnn versteht, warum Tess nicht gehen kann. Sie will nicht so sein, wie ihre Mutter.

Als Ann jedoch mit der Oma von Tess telefoniert, hört sie eine ganz andere Geschichte.
Gefangen im Traum, in der vermeintlichen Liebe sieht Tess für sich nur den Selbstmord als Befreiung. Eine fatale Entscheidung.

Beim Lesen ahnt man natürlich, warum Tess ihr Glück in Wales nicht findet, auch wenn sie es sich noch so sehr wünscht. Sicher bleibt man bis zu letzten Seite bei ihr, weil die Geschichte faszinierend erzählt wird und die Träume anderer Menschen anregen über das eigene Leben nachzudenken.