Tanja Raich: Jesolo, Blessing Verlag, München 2019, 224 Seiten, €20,00, 978-3-89667-644-3

„Wenn du über Baupläne und Bewilligungen sprichst, wandere ich in Gedanken durch die Wohnung, öffne die Tür, gehe die Treppe hinunter. Ich gehe über die Straße, niemand, der mich aufhält, nur meine Schritte auf dem Asphalt. Ich gehe, so weit mich meine Füße tragen können. Jeder Schritt trägt mich weiter, jeder Atemzug wird leichter, immer schneller. Aber als ich kurz davor bin, den Ort zu verlassen, holst du mich wieder zurück.“

Seit der Schule kennen sich die zwei und sind ein Paar. Georg arbeitet in einem Architekturbüro und die fünfunddreißigjährige Andrea ist Grafikerin. Er wohnt im Haus der Eltern in einem kleinen Dorf am Waldrand und sie hat ihre eigene kleine Wohnung. Alles beginnt im Urlaub am Strand von Jesolo. Immer wieder reisen die beiden hierher, sie kennen die Gegend, die Hotels. Es ist heiß, Georg hat wie immer einen Sonnenbrand und keine Frage, ginge es nach Andrea, so ist die Luft in der Beziehung einfach raus. Immer wieder bestürmt Georg seine Freundin, dass sie zu ihm ziehen soll. Doch Andrea mauert, sie möchte in der Stadt leben, auf keinen Fall bei den Schwiegereltern und schon gar nicht in einem kleinen Kaff, wo jeder jeden kennt. Vielleicht könnte man mal in Madrid wohnen, den Horizont erweitern. Doch Andreas Träume sind nicht die von Georg. Sie streiten und legen eine Beziehungspause ein.

Als Andrea nach dem Urlaub feststellt, dass sie schwanger ist, klappt die Familienfalle nach und
nach zu.

Mit nur wenigen Worten und in kurzen Szenen skizziert Tanja Raich das alltägliche Leben von Georg und Andi. Ohne Probleme kann der Leser sich den soziokulturellen Hintergrund von Georgs Familie vorstellen und deren Erwartungen. Niemand hält hinter den Berg und ehe sich Andi umdreht, sitzt sie jeden Sonntag, nachdem sie sich hat überreden lassen, zu Georg zu ziehen, am Mittagstisch der Schwiegereltern, verbringt sie den Möbelkauf mit der Schwiegermutter und muss sich Georgs beschwichtigende Worte anhören, wenn die Schwiegermutter ihr Ratschläge erteilt.
Andis Mutter hat die Tochter verlassen, als das Mädchen zehn Jahre alt war. Zum Vater hat sie ein schlechtes Verhältnis. Georg jedenfalls beginnt mit dem Nestbau. Für beide gibt es nur noch zwei Themen, Ausbau des Dachstuhls und Kind. Nach der Aufnahme eines Kredites, auch das wollte Andi nie, und aufwendigen Umbauten zieht sie hochschwanger in die neue Wohnung. Die Schwiegermutter putzt mit vorwurfsvoller Miene die Wohnung, obwohl sie niemand darum gebeten hat. Georg verbündet sich mit seinem Vater. Andi beobachtet, dass beide mit offenem Mund kauen und wenn sie aus dem Gasthof kommen, dann klingt Georg wie die Dorfbevölkerung, die sich vor den Booten auf dem Mittelmeer fürchtet und die Grenzen geschlossen haben möchte.

In Andis Träumen taucht immer wieder die eigene Mutter auf, die nie den Kontakt zur Tochter gesucht hat. Immer träumt sie von Wasser und unheilvollen Katastrophen. Andi ahnt, dass sie ihre Arbeit in der alten Firma nach der Erziehungspause nicht wiederbekommen wird. Aber sie musste sich ja schon die Tiraden der Schwiegermutter anhören, die gar nicht verstehen kann, dass Andi trotz Kind arbeiten möchte.
Ab und zu wehrt sich Andi gegen die übergriffige Schwiegermutter, die es ja nur gut meint. Aber die Aussicht mit Kind und zugegeben auch Frauen aus der Umgebung, die Kleinkinder haben, am Waldesrand zu wohnen, stimmt sie kaum optimistisch.

„Sie sagen ‚mein‘ zu ihren Männern. Ihre Münder gehen auf und zu, wie Kaulquappen, kleine Luftblasen steigen über ihren Köpfen auf.“

Allein der Gedanke, auch wenn die Großeltern bestimmt ganz viel helfen, mit den Schwiegereltern unter einem Dach zu wohnen, ist schon beängstigend. Viel beunruhigender ist die Tatsache, dass sich Georg immer mehr verändert und nahtlos in der Familiengemeinschaft mit ihrem rechten Gedankengut aufgeht. Wie Frauen mit kleinen Kompromissen und Schweigen in eine Leben rutschen, dass sie eigentlich nicht wollen, davon erzählt dieser bedrückend geschriebene Roman.
Denn wie glücklich wird man in einer perfekt eingerichteten Wohnung, wenn es keinen Gesprächsstoff mehr gibt, der sich nicht mit Hausbau, Anschaffungen, Kreditabzahlungen, Arbeit in Haus und Garten oder Kind beschäftigt?

Eine Fortsetzung wäre interessant.