Joël Dicker: Das Verschwinden der Stephanie Mailer, Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Piper Verlag, München 2019, 666 Seiten, €25,00, 978-3-492-05939-8

„Orphea befand sich im Ausnahmezustand. Die Nachricht, dass ein Theaterstück die Identität eines nie überführten Mörders enthüllen sollte, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.“

Joël Dicker feierte mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ seinen ersten Erfolg. Erzählen kann der frankophone Schweizer auf jeden Fall und einen Romananfang schreiben, der jeden Leser verführt.
In einem Interview sagte Joël Dicker, dass man sein neues Buch als Krimi lesen kann, aber auch als „Geschichte um eine ganze Reihe von Menschen, die während eines Sommers in der fiktiven Stadt Orphea in den Hamptons aufeinandertreffen. Und jeder von ihnen hat eine persönliche Wunde, die heilen muss.“

Alles beginnt mit dem Abschied von Captain Jesse Rosenberg von seinem Polizeidienst. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren will der Ermittler in den verdienten Ruhestand gehen und vielleicht auch etwas Neues beginnen. Als die Journalistin Stephanie Mailer bei seiner Feier an ihn herantritt und behauptet, dass er als junger Kriminalist bei dem spektakulären Mordfall 1994, bei dem vier Menschen getötet wurden, etwas übersehen hat, kann er sich nicht verabschieden. Er nimmt den Fall mit seinem Partner, Derek Scott, wieder auf.
In Rückblenden erzählt Derek Scott nun, dass vor zwanzig Jahren in dem beschaulichen Ort am Atlantik vier Menschen am Eröffnungstag des Theaterfestivals ermordet wurden. Es war die Familie des Bürgermeisters Gordon und eine Joggerin, die wahrscheinlich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Auch 2014 soll wieder das Theaterfestival, ein kultureller Magnet und eine Einnahmequelle der Stadt stattfinden. Neu im Ort ist die Anna Kanner, Deputy Chief der Polizei, die jedoch ihren männlichen Kollegen ein Dorn im Auge ist.
Anna, Jesse und Derek beginnen erneut zu recherchieren, sie überprüfen Aussagen von damals und erkennen, dass sie wirklich vieles nicht in Betracht gezogen haben. Als die Leiche von Stephanie Mailer gefunden wird, nimmt die Handlung Fahrt auf.
Immer mehr Personen tauchen im Zusammenhang mit dem Mord auf. In einer in sich verschachtelten Handlung berichten diese vom vergangenen und gegenwärtigen Geschehen, mal befindet sich der Leser vor Ort 1994, dann wieder 2014. Mal lässt der Autor sie aus der Ich-Perspektive erzählen, mal wählt er die personale Erzählweise.
Es stellt sich heraus, dass der so angesehene ermordete Bürgermeister Gordon zum einen absolut korrupt war, zum anderen wohl an diesem Abend auf der Flucht. Sein Stellvertreter hielt die Eröffnungsrede für das Festival und durch den Tod des Bürgermeisters konnte ein schreibender Polizist, Kirk Harvey, doch noch sein Stück auf die Bühne bringen. Ein völliges Desaster. Gnadenlos wurde es vom Theaterkritiker Ostrowski in der Luft zerrissen.
Alle diese Figuren greifen auch in die Handlung 2014 ein und spielen ihr Spiel auf recht seltsame Weise. Immer umfangreicher und komplizierte wird dieser Fall, bei dem möglicherweise 1994 die Ermittler Fehler gemacht haben und nicht verstanden, dass die eigentliche Zielperson nicht der Bürgermeister war, sondern die Joggerin Meglan Padalius, eine einfache Bücherhändlerin. Doch warum musste die junge Frau, die eine gute Ehe führte und allgemein beliebt war, sterben?
Wieder suchen die Polizisten nach dem Motiv und können es genauso wenig wie 1994 finden.
An einigen Stellen kreuzen sich die in jeweils abwechselnden Erzählsträngen entfalteten Schicksale und dabei wirken einige Verbindungen doch konstruiert, die Figuren durchgeknallt und wenig glaubwürdig.

Joël Dicker streift in seinem Roman so einige Krisen unserer Zeit, z.B. die Krise der Zeitschriften, besonders die der Literaturzeitschriften und er zeigt das Theaterleben als dilettantischen Zirkus, der allerdings auch Talente hervorbringen kann.

Ständig setzt der Autor neue Reizpunkte in seinen kurzen Kapiteln, baut Cliffhanger ein und inszeniert Plot-Twists. So entsteht ein ziemlich kurzweiliges Leseerlebnis, das einen allerdings nicht so gefangen nimmt, wie es eine gut erzählte, die Tiefe der Figuren auslotende Handlung gemeinhin vermag. Vor dem inneren Auge sieht der Leser bereits den Mehrteiler und die Handlung könnte, ob nun bei Netflix oder anderswo, wie der Erfolgsroman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ in Serie gehen.