Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin, Hanser Berlin Verlag, München 2020, 238 Seiten, €22,00, 978-3-446-26784-8

„Das Wasser war kalt. Ihre Kleider sogen sich voll, sie versuchte, stillzuhalten, so wie ihre Mutter es ihr gesagt hatte, versuchte unterzugehen, aber als die Lunge zu schmerzen begann, rissen ihre Arme nach oben, wie von allein, stießen sie hoch, bis ihr Kopf wieder über die Wasseroberfläche war, bis sie nach Luft schnappen konnte. Um sie herum trieben Leichen, Kleider, Schuhe, Hüte, Papiere, Geäst.“

Der 10. Mai 1945: Wie die Mutter der heute neunzigjährigen Frau Dohlberg ertränkten sich Hunderte Bewohner mit ihren Kindern in der Peene. Da ist die russische Armee schon im Ort. In ihren Erinnerungen sieht die alte Frau die angsterfüllten Bilder vor sich. Sie hatte sich mit der Mutter und den Geschwistern im Keller versteckt. Die Russen entdecken sie und nehmen die Mutter mit. Die Schwestern, Lotte wird mit der Mutter im Fluss untergehen, Liese schafft es ebenfalls nicht, sich zu ertränken, ahnen nichts von den Vergewaltigungen und Brandschatzungen im Ort.
Diese tragischen Ereignisse schlummern im Untergrund der Geschichte, die Verena Keßler eher ruhig erzählt.
Im Vordergrund agiert die auf Abenteuer erpichte fünfzehnjährige Larissa. Sie trainiert ihren Körper und ihren Geist, geht an Grenzen, um sich zu spüren und sich fit zu machen für schwierige, künftige Einsätze als Kriegsreporterin. Beobachtet wird sie von der schweigsamen Frau Dohlberg, die gesundheitlich an dem Punkt angelangt ist, wo sie wohl für sich allein nicht mehr sorgen kann. Der Umzug ins Seniorenheim steht bevor und für sie bedeutet dies, das Haus mit nur wenigen eigenen Sachen zu verlassen. Erinnerungen poppen auf, Erinnerungen an grausige Tage.

„Jahrelang waren sie weg, jetzt kommen sie wieder, immer häufiger, rauschen vorbei, die Leichen im Fluss.“

Nach 75 Jahren ist im vorpommerschen Örtchen Demmin nicht viel los. Larissa beschreibt ihre Mutter, ihre Arbeit auf dem Friedhof, ihre Freundin Sarina, den Mitschüler Timo, der jetzt die Regale bei Netto einräumt und ihren Lebensalltag in einem herrlich lässigen Ton. Das Massengrab auf dem Friedhof in Demmin beschäftigt Larissa je öfter sie die Einträge im Sterbebuch liest. Hier sind die Tote aufgelistet, viele Tote, besonders Kinder sind ohne Namen verzeichnet.
Larissas Mutter sehnt sich nach einem normalen Leben mit Freund und Tochter und scheint doch immer wieder sich für den falschen zu entscheiden. Nun hat sie einen Mann kennengelernt, der zwar elf Jahre jünger ist, aber vielleicht doch die große Liebe. Allerdings zieht er auch gleich mit all seinen Klamotten ein und Larissa tritt die Flucht an. Sie packt ihre Sachen und will, dass ihr Vater, der Fernfahrer, sie mitnimmt. Auch Larissas Familie lebt mit einer schweren Last. Als Larissas Mutter schwanger war, verunglückte ihr Sohn. Diesen tragischen Tod konnte die Ehe nicht verkraften. Aber Larissas Eltern sind ein Team, wenn es um die Tochter geht.

Sehr viel Leid, viele Gespenster ziehen sich durch diesen feinsinnig geschriebenen Roman, der doch mit seiner Sehnsucht nach einem erfüllten Leben auch in der sanften Liebesgeschichte zwischen Timo und Larissa und der krisenfesten Freundschaft zwischen Larissa und Sarina eine bessere Zukunft andeutet.