Anna Silber: Das Meer von unten, Picus Verlag, Wien 2023, 226 Seiten, € 24,00, 978-3-7117-2135-8
 

„Ich schaue auf mein Handy, acht Uhr, vielleicht haben die Nachbarskindeltern erst jetzt gemerkt, dass ihr Kind nicht mehr vor der Tür sitzt.“

Constance, kurz Connie genannt, arbeitet als Küchenhilfe im Gasthaus „Rösch“ in Wien. Obwohl sie die Matura hat, sagt sie an einer Stelle, sie wolle keine Bücher mehr lesen, die sie nicht interessieren und eigentlich etwas Bodenständiges machen. Doch ihre Arbeit ist stupid, anstrengend und geht bis Mitten in die Nacht hinein. Ihre Chefin Berta kennt ihre Mutter, die wohl alkoholkrank ist, immer wieder anruft und Connie ziemlich nervt. Connie wurde als Kind von der Mutter einfach so bei Berta abgegeben. Connie hat kaum Freunde und das Arbeitsteam, fast alle Migranten, scheinen ihr die Familie zu ersetzen. Dann zieht in die Nebenwohnung im Gemeindebau eine neue Familie ein. Da die Mutter ein Kopftuch trägt, denkt Connie, es sind Muslime. Die Mutter ist hochschwanger und sie haben ein acht- oder neunjähriges Kind.

Anna Silber gibt dem Kind keinen Namen und auch kein Geschlecht. Es ist extrem zutraulich und vor allem beobachtet es genau. Connie als Ich-Erzählerin führt durch ihr langweiliges Leben, in dem kaum etwas Interessantes passiert. Lang sind die Passagen über die eintönige Arbeit in der Küche, das Essen, die Wiederholung. Doch die Familie von nebenan wird einiges verändern.

In schnellen Dialogen kann man viel von den Leuten im „Rösch“ erfahren, aber auch von den Nachbarn im Haus und deren latenten Rassismus.

Connie findet das Kind der Nachbarn oft vor der eigenen Tür, es sitzt dort oder schläft. Nach und nach bittet Connie es zu sich in die Wohnung oder das Kind hofft auf Einlass. Es lässt sich nicht ausfragen, aber das übernimmt nicht Connie, sondern Hana, eine neue Aushilfe im Beisl. Hana ist lesbisch, stammt aus Bosnien und studiert an der Universität. Connies Leben ist voller Tristesse, zumal sie sich von Männern, u.a. Hakim ansprechen lässt und mit ihnen schläft. Um mit dem Kind etwas zu unternehmen, fährt Connie mit ihm in den ersten Bezirk zum Stephansdom. Doch das Kind langweilt sich schnell, ist auf nichts neugierig. Dabei hat es in der Wohnung der Mutter von Connie, sie kümmert sich um die Orchideen, einen wunderbaren Einfall als es ein blaues Tuch über dem Bett sieht und den Blick als „das Meer von unten“ beschreibt.

Warum kümmert sich die junge Frau um ein fremdes Kind? Warum sucht sie nicht das Gespräch mit den Eltern, die sich in der Nacht lauthals anschreien? Hana stellt all die Fragen und erhält keine Antwort. Connie geht sogar mit den Eltern aufs Amt, da ihnen wohl die Abschiebung droht. Fühlt sich Connie an die eigene einsame Kindheit erinnert? Scheint sie im Leben nichts zu wollen? Wärme spürt das Kind, wenn es bei Connie schlafen kann. Als die Eltern des Kindes für viele Tage verschwinden, muss Connie sich der Situation stellen.

Im breiten Wienerisch unterhalten sich die Figuren und beim Lesen kommt man ihnen nahe und ahnt, dass es kein gutes Ende geben wird. Es ist ein Milieu, das realistisch beschrieben nicht oft in Romanen thematisiert wird. Es geht um Menschen, die einfach nicht dazugehören, viel arbeiten, schweigen und bloß nicht auffallen sollen.