Anika Landsteiner: So wie du mich kennst, FISCHER Krüger Verlag, Frankfurt a.M. 2021, 352 Seiten, €16,99, 978-3-8105-3074-5

„Warum reden wir den ganzen Tag und erzählen uns doch so wenig?“

Diese Worte zitiert Karla, um zu hinterfragen, was Menschen sich wirklich mitteilen. Vielleicht ahnt Karla auch, dass ihre Schwester Marie zwar jeden Tag mit ihr telefoniert hat, aber ihr eigentlich die wichtigen Ereignisse in ihrem Leben nie erzählt hat. Warum nicht? Aus Scham? Um ihr eigenes Bild, dass die anderen von ihr sich aus der Ferne gemacht haben, nicht zu zerstören? Um stark zu wirken, auch wenn sie es vielleicht nicht immer war?

Karla und Marie erzählen jeweils aus ihren Perspektiven von ihrem sorgenfreien Leben als Geschwister, die einem stabilen Elternhaus irgendwo in Franken aufgewachsen sind. Und sie berichten von ihrem Erwachsenenleben. Beide haben die Dreißig überschritten. Marie ist die erfolgreiche Fotografin in New York und Karla die Lokalreporterin beim Seekirchner Boten. Beide haben kein Studium absolviert und sind doch schnell im beruflichen Alltag klargekommen. Maries kometenhafter Aufstieg als Künstlerin erscheint wie ein amerikanischer Traum. Was für unterschiedliche Welten! Und doch herrscht zwischen den Schwestern, wie nicht allzu oft in Romanen über Geschwisterkonstellationen kein Neid, kein Streit, keine Fremdheit, keine Abgrenzung, sondern eitel Sonnenschein.

Doch nun ist die mutige, wie durchsetzungsfähige Marie in New York bei Rot über die Straße gegangen und von einem Auto erfasst worden. Karla bringt die Asche nach Hause. Reist dafür nach New York, um mit der Trauer fertig zu werden und Maries Nachlass zu verwalten. Wie manisch sucht Karla nach Lebenszeichen in Maries Fotos, sie lernt ihre Freunde und Freundinnen näher kennen und versinkt im Leben der Schwester. Marie hatte die Nachbarn von gegenüber in ihrem Viertel fotografiert. Zu sehen ist ein Paar, in deren Alltag körperliche Gewalt die Beziehung beherrscht.

Auch Marie kommt vor dem Unfall zu Wort. Sie berichtet von ihrer frühen kurzen Ehe mit Adam, dem Sohn eines reichen Schönheitschirurgen aus Boston. Adam hat wenig Ziele im Leben und liebt Maries Entschlossenheit, sich beruflich zu etablieren. Doch je beschäftigter sie ist, um so mehr wird ihm seine eigene innere Leere bewusst und die tiefe Enttäuschung seines herzlosen Vaters. Seine Unzufriedenheit kehrt der attraktive Adam nach außen, er demütigt Marie psychisch und physisch.

Marie schafft, zumal in einem fremden Land, den Absprung aus ihrer Ehe und baut sich ein eigenes, vielleicht auch einsames, aber arbeitsreiches Leben auf. Offen bleibt, ob Marie wirklich ein Unfallopfer ist oder vielleicht diese Form des Suizids gewählt hat.

Anika Landsteiner blättert im Leben zweier junger Frauen, die aktiv im Leben stehen und sich nicht klar sind, wohin die Reise gehen soll. Karla kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie mit ihrem Jugendfreund Max demnächst ins Eigenheim zieht und Kinder bekommt. Marie spürt in der Stadt, die niemals schläft, eine tiefe Einsamkeit, die sie auch ihrer Psychologin gestehen muss und die Gewalttaten ihres Ex-Mannes, der erneut schuldbewusst vor ihrer Haustür auftaucht.

Gut konstruierte Handlung, doch stellenweise unglaubwürdig kippen die Stimmen der Figuren manchmal ins Kitschige.
Schade.