Penelope Mortimer: Bevor der letzte Zug fährt, Deutsch von Kristine Kress, Dörlemann Verlag, Zürich 2023, 301 Seiten, €26,00, 978-3-03820-120-5

„Wie kleine Eisberge halten alle ein helles, strahlendes Gesicht über Wasser, doch unter der Oberfläche, vielen Fäden tief getaucht in Müßiggang, verbirgt jede ihre eigene, vereinsamte Persönlichkeit. Einige sind glücklich, einige vergiftet von Langweile, einige trinken zu viel, und einige sind unterhalb der Demarkationslinie, leicht verrückt; manche lieben ihre Ehemänner, und manche gehen an Lieblosigkeit ein; ein paar wenige haben Talente, so unbrauchbar für sie wie ein gelähmtes Körperteil.“

Liest man Frauenzeitschriften, die nicht auf Bildzeitungsniveau fundierte Artikel veröffentlichen, dann scheint es das wirklich noch zu geben, Frauen, die in ihrer Ehe mit einem dominanten Mann gefangen sind und nie ihre eigene Vorstellung von einem eigenen, bewusst gelebten Leben verwirklichen. Nur heute wagen diese Frauen den Weg aus der Abhängigkeit. Um welchen Preis dies jedoch geschieht, erzählt keine dieser Frauen.

Auch Ruth Whiting, die Heldin in Penelope Mortimers Roman, der erstmals 1958 veröffentlicht wurde, ist in ihrer viel zu früh eingegangenen Ehe gefangen. Sie wohnt in einem schönen Haus auf dem Common, ihre beiden Söhne verbringen die meiste Zeit im Internat und ihre achtzehnjährige Tochter Angela studiert in Oxford. Ihr ruppiger und kaum liebenswerter Mann Rex arbeitet von Montag bis Freitag als angesehener Zahnarzt in der Stadt und fährt nur an den Wochenenden nach Hause. Als gute Beobachterin überkommt Ruth im Herbst eine melancholische Stimmung und die Gewissheit, dass sie erneut Zeit ohne Ziel und Disziplin, aber mit vielen Einkäufen verleben wird. Ihre Nachbarinnen, man lädt sich immer wieder zu sinnlosen Gesprächen mit hohem Alkoholkonsum ein, sind für Ruth keine Bereicherung.

„Ihre Freundschaften, die so offen und heiter wirken, sind glühend und kurzlebig, und verwandeln sich schnell in Bosheit. Zusammengeschlossen könnte ihre Energie eine Revolution auslösen, halb Südengland mit Strom versorgen, ein Atomkraftwerk betreiben.“

Als Ruth neunzehn Jahre alt und schwanger von Rex war, blieb ihr und ihm gar keine Wahl, sie mussten heiraten. Nun kauft Rex sich teure Anzüge, auch um seine Gewichtszunahme zu kaschieren und pflegt seine Affären. Beide haben sich kaum etwas zu sagen, und ihre Ehe ist eher durch Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Kein Wunder, dass Ruth sich in Depressionen verkriecht und zu gern Tabletten schluckt. Rex fällt nichts besseres ein, als seiner Frau die aufdringliche Miss de Beer als „Wächterin“ an die Seite zu stellen. Doch Ruths Lebensgeister erwachen wieder, als ihre Tochter Angela sie braucht. Sie bemerkt, dass sie von Tony, einem unerträglichen jungen Mann, der auf einen neuen Krieg hofft, schwanger ist. Als würde sich fast schicksalshaft Ruths Leben in dem ihrer Tochter fortsetzen. Angela will auf keinen Fall Tony heiraten und sie will dieses Kind nicht bekommen. Doch eine Abtreibung ist illegal, teuer und vor allem auch gefährlich, wenn sie medizinisch nicht gut betreut wird. Angela klammert sich nun an ihre Mutter, denn der Vater darf auf keinen Fall erfahren, dass ein Kind unterwegs ist. Doch wie findet man einen Arzt, dem man vertrauen kann? Und wen kann Ruth von ihrem vermeintlichen Freundinnen um Rat fragen?

Penelope Mortimers engagierte Hauptfigur nimmt vieles auf sich, um ihrer Tochter wirklich zu helfen und ist somit ihrer Zeit voraus. Die Autorin erzählt aus Ruths und Angelas Perspektive und offenbart so die Gefühlslagen beider Frauen. Lebensnah mit einem oftmals sarkastischen, präzisen wie desillusionierter Blick schaut Penelope Mortimers sprachlich überzeugend auf die blutleere englische Gesellschaft. Es wird viel geredet, obwohl man sich nichts zu sagen hat.