Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt, Rowohlt Verlag, Hundert Augen, Hamburg 2022, 379 Seiten, €22,00, 978-3-498-00296-1

„Es ist nicht möglich, an dieser Aufgabe zu scheitern. Kinder hüten, das kann jeder. Und wollen muss es auch jeder, der diese Kinder bekommen hat. Oder nein, jede. Die Kümmerpflicht gilt für die Mütter. Johannes hat diese Kinder auch bekommen, aber er muss irgendwie gar nichts. Über die Leere solcher Tage, die sich lähmend über das Gehirn legt, weil man sich mit nichts anderem beschäftigt als mit physischer Versorgung, Brei kochen, Brei in den Kindermund stecken, Kacke vom Kinderhintern abwischen, den Kinderkörper tragen, den Kinderkörper beschützen vor Stürzen, Schnitten, Verbrennungen, den Schlaf herbeisingen, spricht niemand. Es gibt keinen Raum für solche Gespräche, keine Schutzzone. Eine Mutter ist eine Mutter ist eine Mutter.“

Und dann bringt eine Pandemie eine Mutter in Salzburg an den Rand ihrer Belastbarkeit. Helene verliert ihren Job und sie ist mit ihren drei Kindern allein zu Hause. Ihr Mann Johannes hat sich im Homeoffice verbarrikadiert. Lola, die bald fünfzehn wird, kommt allein klar und doch nerven die ständigen Diskussionen mit dem zur Feministin avancierten Teenager. Die Söhne Maxi, sechs Jahre alt, und Lucius, zwei Jahre alt, sind nur dabei sich zu streiten, Dinge wegzunehmen und zu schreien. Es ist nicht auszuhalten. Tag für Tag. Immer der gleiche Lärmpegel, die sinnlosen Ermahnungen und die Hilflosigkeit.
Helene muss nur die eine Frage, die das Fass zum Überlaufen bringt, hören: „Haben wir kein Salz?“ Und schon spult sich in ihrem Unterbewusstsein ein Vorwurf nach dem anderen ab. Depressiv und ausgelaugt bleibt ihr offenbar keine andere Wahl. Sie geht zum Balkon und springt zwölf Meter in die Tiefe.

Ein drastischer Anfang für einen Roman.

Mareike Fallwickl hat selbst in einem Gespräch im Deutschlandfunk Kultur gesagt, dass sie sehr unsicher war, ob sie das wirklich so schreiben sollte.

Aus der Sicht von Lola und der besten Freundin von Helene, Sarah, wird nun geschildert, was nach Helenes Freitod geschieht. Die inneren Stimmen der beiden literarischen Figuren begleiten die Trauer der Familie, die Wut, aber auch die Verzweiflung.
Sarah, die auf die vierzig zugeht, arbeitet als Autorin und kann in ihrem kleinen Häuschen ganz gut mit dem Lockdown umgehen. Sie hat neuerdings einen zehn Jahre jüngeren Freund, der bei ihr eingezogen ist. Leon ist äußerst gutaussehend und Sarah beginnt sich für ihre Speckröllchen zu schämen. Sport ist angesagt.
Doch dann fühlt sich Sarah in der Verantwortung, zumindest bei Johannes vorbeizuschauen und auch zu sehen, wie es den Kindern geht. Lola hat Sarah aufwachsen sehen, bis Helene dann vor sieben Jahren Johannes kennengelernt hat und noch zwei Kinder bekommen hat.
Die kinderlose Freundin, die kaum eine Vorstellung hat, wie so ein Familienleben abläuft, wird nun von Johannes, aber auch von ihrem eigenen Gewissen und Verantwortungsgefühl in die Familie hineingezogen. Johannes Mutter war an Covid19 erkrankt und kann durch die Spätfolgen nicht helfen. Was auf Sarah, die sich alles völlig anders vorgestellt hat und Helenes sarkastische Bemerkungen über ihren eigenen Familienalltag nicht so ernst genommen hatte, nun wartet, ist Stress pur. Manchmal taucht Helene als Geist sozusagen auf und kommentiert Sarahs Verhalten.
Denn nach und nach gleitet Sarah, die inzwischen in Helenes Wohnung eingezogen ist, in genau die gleichen Verhaltensmuster, die auch Helene an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Weder Johannes noch Leon kümmern sich ums Putzen, Einkaufen oder Kinderhüten. Johannes begleitet nicht mal seinen eigenen Sohn am ersten Schultag. Er sitzt am Tisch mit den lärmenden Kindern und starrt auf sein Handy. Er übergibt ungefragt Sarah, die sich nicht wehren kann, alle Verantwortung für die Kinder.

„Es ist nicht möglich, das Chaos zu bewältigen. Denn Sarah ist allein, und die Chaoten sind zu viert. Sie haben acht Beine, hundert Arme und null Sinn für Ordnung.“

Noch kann Sarah alles mit ihrer Arbeit vereinbaren. Natürlich vernachlässigt sie ihren Freund Leon, aber der fühlt sich so allein ganz wohl in ihrem Häuschen. Durch die extremen Auseinandersetzungen mit Lola, die weder Respekt für Sarahs Hilfe zeigt, noch versteht, warum sie die Toilette ohne Bezahlung putzt, beginnt Sarahs Nachdenken über die Rolle der Frau und Mutter. Sarah ist nicht so wütend wie Lola, die in einem Selbstverteidigungskurs Mädchen kennenlernt, mit denen sie sich gewalttätig gegen Männer wehren wird.
Sarah fragt sich, warum bei Helene alles so schief gelaufen ist. Hat sie nie um Hilfe gebeten? Hat sie ihre Kinder nicht erzogen, war sie nicht konsequent? Warum hilft Lola nur, wenn es wirklich sein muss? Hat Helene genau wie Sarah aufgegeben, Johannes‘ Anteil an der Carearbeit oder Kindererziehung einzufordern, weil er sich doch entziehen wird oder in der Mitte der Arbeit einfach alles liegen lässt?
Die Lesenden erfahren sehr viel über die innerseelischen Zustände Sarahs. Immer wieder umkreist sie, auch mit Helenes Kommentaren als Geist, ihre Situation. Warum verhält sie sich immer so mäßigend? Kontrolliert sich und ihr Gewicht, obwohl sie zu gern Schokolade isst? Sieht sich immer im Spiegel an und denkt, was ein Mann denken könnte? Warum sind in ihren Krimis immer die Frauen die Opfer?

Beim Lesen dieses Romans überdenken die Lesenden garantiert auch ihr eigenes Verhalten, ob als Mann oder als Frau. Kompromisse eingehen muss jeder in Beziehungen. Doch wie weit sollte man wirklich gehen? Wo ist die Grenze? Wie kann es sein, dass Frau sich einfach nicht abgrenzen kann und Mann alle Freiheiten hat?

Mareike Fallwickl ist eine exzellente Beobachterin und hat einen sensiblen, sprachlich feinen gesellschaftskritischen Themenroman genau zur richtigen Zeit geschrieben. Mag einiges überzogen sein, Tatsache bleibt, dass in der Pandemiezeit Geld für alles Mögliche ausgegeben wurde, aber niemand hat sich wirklich, auch in Deutschland, darüber Gedanken gemacht, wie die Mütter die Pandemie überstehen und was sich hinter Wohnungstüren abspielt.