Clare Chambers: Kleine Freuden, Aus dem Englischen von Karen Gerwig, Eisele Verlag, München 2021, 432 Seiten, €24,00, 978-3-96161-116-4

„Das Paradoxe war, dass Gretchens Sexualität es zwar wahrscheinlicher machte, dass sie vor Howard keine Beziehungen zu Männern gehabt hatte, aber durch ihre Unehrlichkeit in dieser Hinsicht wurde sie insgesamt zu einer weniger glaubhaften Zeugin.“

Wie ein Damoklesschwert schwebt über dieser ganzen Geschichte die Nachrichtenmeldung vom Zugunglück am 4.12.1957. Ein halbes Jahr vorher setzt die Handlung ein.

Die vierzigjährige Jean Swinney arbeitet als einzige Journalistin beim North Kent Echo. Sie ist natürlich für Haushaltstipps, eine Frauen – Kolumne und wöchentliche Gartenmeldungen, also alles, was Leserinnen so interessieren könnte, zuständig.
Mit ihrer Mutter, die ein „hoch entwickeltes Gefühl für Hilflosigkeit“ zelebriert, lebt sie wie eine Gefangene in einer kleinen Wohnung. Ihr Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, nachdem er die Familie verlassen hatte. Die zudem noch misstrauische wie unsympathische Mutter, die keine Freundschaften pflegt, ist völlig mittellos. Zudem schämt sie sich dafür, verlassen worden zu sein und geht kaum aus dem Haus. Jeans Schwester Dorie hat vorsorglich das Weite gesucht und ist mit einem Kaffeebauern in Kenia verheiratet.
Als auf einen Artikel hin ein Brief einer Leserin die Aufmerksamkeit der Zeitung erregt, soll Jean die Recherche und das Schreiben über diesen wohl sehr ungewöhnlichen Fall übernehmen.
Eine gewisse Gretchen Tilbury behauptet, dass sie ihre Tochter Margaret bei einer sogenannten Jungfrauengeburt empfangen habe. Sie erklärt Jean auch äußerst glaubwürdig, dass sie vor der Schwangerschaft keinen Kontakt zu einem Mann haben konnten, denn sie musste wegen Gelenkrheumatismus 1946 nur unter Frauen im Krankenhaus St. Celia vier Wochen das Bett hüten. Die Heirat mit Howard Tilbury fand statt als das Baby sechs Monate alt war. Jean ist von Gretchen, die als Schneiderin arbeitet, ziemlich fasziniert. Sie mag ihr aufgewecktes Mädchen und auch zu Howard, der als Goldschmied arbeitet, baut Jean im Laufe der Zeit einen guten Kontakt auf. Gretchen und Kind sollen sich auf Kosten der Zeitung einigen Tests im Charing Cross Hospital unterziehen. Ziemlich schnell wird klar, dass Gretchen und Howard eher eine Vernunftehe eingegangen sind, obwohl Howard seine Frau wohl mehr liebt als sie ihn. Es scheint so, als hätte Gretchen, auf deren Gesicht sich oft Melancholie und Trostlosigkeit spiegeln, alles für Margaret getan. Auch wenn Jean den Tilburys allzu nah kommt, bleiben Zweifel. Sie spricht mit einer der Schwestern aus St. Cecilia und erhält so die Kontakte zu den Frauen, die damals mit Gretchen das Zimmer teilten. Als Jean dann die recht unkonventionell als Künstlerin lebende Martha kennenlernt, ahnt sie nicht, dass sie indirekt den Kontakt zwischen Gretchen und Martha wiederherstellt. In dieser Zeit kommen sich Jean und Howard, die ihm sogar von ihrem einstigen Schwangerschaftsabbruch erzählt, sehr nah.
Gretchen jedenfalls entschließt sich dazu, aus ihrer Ehe auszubrechen und mit Martha zusammenzuziehen. Doch auch dies verläuft ziemlich unglücklich, denn Margaret und Martha mögen sich nicht. Und dann stellt sich auch noch heraus, dass Gretchens naive Behauptung von der Jungfrauengeburt nicht nachzuweisen ist.

Clare Chambers Geschichte erinnert zu Beginn an Heinrich von Kleists beeindruckende Novelle „Die Marquise von O“ und somit bleibt nicht offen, ob es eine Jungfrauengeburt gibt oder nicht.
Clare Chambers hat ein fabelhaftes Gespür für den Wandel von Gefühlen, ihr Roman ist vielschichtig und die Figuren sind pointiert. Die Autorin erzählt in immer neuen Wendungen vom Leben der Frauen in England am Ende der 1950er Jahre, den gesellschaftlichen Normen und Zwängen, denen sie sich unterzuordnen hatten, aber auch ihrem Glücksanspruch. Die Engelsstimmen, die Margaret angeblich hört, weisen auf ihre Geburt hin, denn mitnichten existierte eine Empfängnis ohne männliche Beteiligung.