Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster, stehend, Abendlicht, blaues Kleid, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2021, 368 Seiten , €22,00, 978-3-423-28273-4

„Sie hatte keinen Anspruch auf irgendetwas, erst recht keinen moralischen. Sie hatte ja nicht einmal das Naheliegende getan und ihre Großmutter mal nach ihrem Leben im Nationalsozialismus gefragt. Oder wenigstens ihre Mutter, als die noch lebte, denn die hatte das vermutlich sehr wohl getan.“

Wenn die nicht gerade lebenspraktische Hannah ihre mürrische, 94-jährige Großmutter Evelyn im Seniorenpalais im Berliner Westen besucht, dann stellt sich keine Harmonie ein. Evelyn ist genervt von allem, sogar von ihrer Enkelin. Als diese den Brief eines israelischen Anwalts, der auf Restitutionsverfahren für Kunstgegenstände spezialisiert ist, entdeckt, ist ihre Neugier geweckt. Ihr war nicht klar, dass sie jüdische Vorfahren hat und dass diese Ansprüche auf gestohlene Gemälde gestellt haben. Hannah wird diese Spur als Kunsthistorikerin verfolgen und erkennen, wie schwierig es ist, verschwundene Kunst den ursprünglichen Eigentümern, so sie noch am Leben sind, zurückzugeben.
Hinzu kommt, dass Evelyn nicht bereit ist, über ihre Mutter Senta und deren Lebensgeschichte zu sprechen.
Hannah findet heraus, dass ihre Urgroßmutter Senta mit dem jüdischen Journalisten, Julius Goldmann, verheiratet war. Seine Eltern hatten einen Kunsthandel und wurden in den 1930er Jahren von den Nazis zu Verkäufen gezwungen und später im Konzentrationslager ermordet.
Evelyn wurde von ihrer Mutter sehr früh verlassen. Sentas frühe Ehe mit dem einstigen Flieger und Kriegshelden Ulrich endet in einem Fiasko. Ulrichs Schwester Trude übernimmt die Mutterstelle und lebt mit dem Kind, auch nach dem Selbstmord Ulrichs, bei einem Onkel in Güstrow. Senta geht nach Berlin und arbeitet als Sekretärin, später sogar als Journalistin. Sie schickt Geld für ihr Kind nach Güstrow und leidet darunter, dass sie keine gute Verbindung zu Evelyn, die mehrmals nach Berlin reiste, aufbauen kann. Trude hintertreibt jegliche Annäherung und sie wird auch Sentas „Schatz“, den sie in den Koffer des Kindes eingenäht hat, missachten.

Hannahs innere Gedanken durchziehen den Roman, aber nicht nur sie kommt zu Wort, auch ihre Vorfahren und deren Geschichten, die vor fast einhundert Jahren einsetzen, werden detailgenau erzählt. In Zeitsprüngen über vier Generationen hinweg verfolgt Alena Schröder nun die Lebenswege von Senta, der leiblichen Mutter von Evelyn und sie begleitet Hannah bei ihren Nachforschungen, den langwierigen Prozessen, um die Provenienz von Bildern herauszufinden.
Nicht sehr glücklich arbeitet Hannah an ihrer Doktorarbeit und hat auch noch ein liebloses Verhältnis mit ihrem verheirateten Doktorvater. Die Siebenundzwanzigjährige hat kaum Freunde und die sich ihr aufdrängen, wie der eifrige Geschichtsstudent Jörg Sudmann, findet sie kaum sympathisch. Hannahs Mutter Sylvia ist früh an einer Krebserkrankung verstorben.
Wie ein roter Faden durchzieht die Handlung auf allen Zeitebenen die Abwesenheit der Väter und die schwierigen Mutter-Töchter-Beziehungen. Bemüht sich Senta doch um ihre Tochter Evelyn, so wird sie es nie schaffen, ein normales Gespräch mit ihr zu führen. Dabei wollte Senta ihrer Tochter gerade in der schweren Zeit etwas Gutes tun. Nach dem Krieg hat sie sich an wertvolle Bilder aus der Kunsthandlung ihres Schwiegervaters erinnert, u.a. auch an ein Gemälde von Vermeer mit dem Titel: „Junge Frau, am Fenster, stehend, Abendlicht, blaues Kleid“. Weiterhin auch an Bilder von Max Liebermann oder Oskar Kokoschka. Doch wohin sind all diese Gemälde entschwunden? Sind sie im Besitz von Schokoladenfabrikanten, die ihre Kunstsammlungen nicht der Öffentlichkeit zeigen?

Die Hauptfigur Hannah gewinnt durch ihre Recherchen immer mehr an Selbstbewusstsein. Sie beginnt langsam herauszufinden, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen will. Keine Sekunde geht es ihr um irgendwelche Reichtümer, wie ihr so gern, von ach so sensiblen Leuten unterstellt wird.

Alena Schröder verwebt historische Ereignisse und deren Konsequenzen für Personen wie Gesellschaften mit der Gegenwart. Dramaturgisch gesehen, schlägt die Autorin einen weiten Bogen und verliert sich aber manchmal auch in Nebenschauplätzen. Leider sind manche Entwicklungen vorhersehbar und andere wiederum schwer nachvollziehbar. So wäre doch sehr interessant gewesen, mehr über Sentas Leben im Exil in den skandinavischen Ländern und später dann in Brasilien zu erfahren.

Als Information von der Verlagsseite sei zur Autorin noch Folgendes hinzugefügt:

„Die Geschichte ist inspiriert von ihrer realen Urgroßmutter Senta. Diese wurde jung schwanger, war eine unglückliche Mutter und hat schließlich ihre zweijährige Tochter zurückgelassen, um nach Berlin zu gehen um frei und unabhängig zu sein. Sie war in zweiter Ehe mit dem Sohn eines jüdischen Kunsthändlers verheiratet. Den Verletzungen zwischen Mutter und Tochter nachzuspüren sowie die Beschäftigung mit dem Schicksal der jüdischen Schwiegereltern ihrer Urgroßmutter und dem Verbleib ihres verschollenen Kunstvermögens war für die Autorin unglaublich spannend und bewegend.“