Elke Schmitter: Inneres Wetter, Verlag C.H.Beck, München 2021, 202 Seiten, €22,00, 978-3-406-774294

„Die innere Abwesenheit ihres Mannes, ist sie da oder nur in ihrer Vorstellung? Oder ist es ihre eigene Abwesenheit, die sie ihm zuschieben will? Wie ein Band, das ausgeleiert ist und Schlaufen werfen und sich verheddern kann; auf einmal gibt es Spielraum für Gedanken, die es früher nicht gab.“

Die Mitglieder der Familie Kepler reisen aus allen Richtungen der Republik im Jahre 2014 nach Westfalen zum 77. Geburtstag des Vaters Georg an. Die umständliche Planung beginnt per E-Mail bereits im April. Es soll am Festtag, dem 3. Oktober eine Überraschung werden. Allerdings warnen alle Kinder den Vater kurzzeitig und telefonisch vor. Er ist das Bindeglied, dass die Geschwister Bettina, Huberta und Sebastian noch zusammenhält.
Elke Schmitter schaut nun in die Lebensverhältnisse dieser Familie. Durch den Blick in die Innenwelten der Geschwister, des verwitweten Vaters und seiner einzigen Schwiegertochter Mora, Ehefrau von Sebastian, entsteht langsam ein Bild dieser Familie, die vielleicht stellvertretend für viele andere stehen könnte.
Sebastian Kupfer, der sich beruflich Aktenordnern und dem Verwaltungsrecht widmet, hat sich auf eine Affäre mit der polnischen Lehramtsanwärterin Lena eingelassen. Seine Frau Mora ist nur mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Ben beschäftigt, der ihr langsam, wie sie glaubt, entgleitet. Sie hat beruflich allen Ehrgeiz fahren lassen und arbeitet nun in einer Boutique, wo ausgerechnet eine neue Lehrerin an Bens Schule sich als Ladendiebin ausprobiert. Äußerst peinlich als Mora und die Lehrerin sich bei einer Elternversammlung wiedersehen. War es die Suche nach dem Kick, dem Besonderen im Leben oder einfach nur Dummheit, was diese Lehrerin angetrieben hat?
Mora vergleicht mit leichtem Heimweh immer wieder Familien in Deutschland und Dalmatien. Mag es ein Klischee sein, aber Herzlichkeit und Spontanität gehört nicht zu den deutschen Eigenschaften. Familie Kepler schafft es immer wieder Mora, der kaum geliebten, leicht exotischen Schwiegertochter, zu vermitteln, dass sie gern dabei sein kann, ihre Abwesenheit aber auch niemanden stören würde.
Elke Schmitters seziert genüsslich den Pragmatismus der Deutschen in den Erinnerungen auch Georgs an seine Frau Dorothea. Sie, die nur Bücher gelesen hat, um in bestimmten Gesellschaften mitreden zu können und die mit ihrer ganzen Fürsorge den Sohn erdrückt hat.

„Alles richtig zu machen, das war Dorotheas einziger und tauglicher Pfad. Sie war so darauf angewiesen, sich selbst als einen guten Menschen zu betrachten, dass ihr eigenes Ressentiment durch Begründungen verdeckt werden musste. Mikroaggression nennt man das heute, ….“

Sind Sebastian, leicht untersetzt, und auch Bettina vielleicht ein bisschen glücklich, so scheinen alle anderen die Krisen nur zu umschiffen. Mora quält das Schweigen ihres Sohnes, seine Gleichgültigkeit und sein Desinteresse. Tochter Adriana, die natürlich vegan lebt, trumpft gegen die Eltern auf und wird demnächst ihr Glück in Bolivien suchen. Die fünfundfünfzigjährige Huberta kümmert sich um ihren kranken Hund und hangelt sich als Ethnologin ( ohne Abschluss ) und neu ausgebildete Mediatorin ( ohne Geduld ) von Job zu Job. Sie muss auf jeden Cent achten, trägt ihr Haar raspelkurz und scheint eher auf Frauen als auf Männer zu stehen. Ein Tabuthema für Mutter Dorothea. Bettina hatte sich ein Jahr von ihrem Mann Johannes getrennt, um zu erkennen, dass nicht er die Schuld an ihrer Unzufriedenheit trägt.

Es ist die gut bürgerliche Familie, die nach außen hin so gut funktioniert und bei genauem Betrachten doch von allen Unwegsamkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung getroffen wurde.
Elke Schmitter findet für diese Beschreibungen der Familieneigenheiten passende Formulierungen und Sätze, die man in Stein meißeln könnte.

Man übertüncht vieles, meidet Gespräche zu bestimmten Themen und genießt das deutsche Essen, wobei man nichts falsch machen kann.
Jeder kehrt in seinen Alltag zurück. Nur Georg, der sehr klar mit beiden Beinen im Leben steht, ahnt die Untiefen.