Ian McEwan: Lektionen, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 720 Seiten, €32,00, 978-3-257-07213-6

„Von der Türschwelle aus wirkte für Roland alles wie zufällig, fast, als wäre er von einem vergessenen Ort in diese Umstände hineinversetzt worden, in ein von jemand anderem hinterlassenes Leben; nichts davon hatte er selbst gewählt. Das Haus, das er nie kaufen wollte und sich nicht leisten konnte. Das Kind in seinen Armen, von dem er nie angenommen hatte, dass er es einmal lieben und brauchen würde.“

Erzählt wird von Roland Baines, geboren 1948 ( wie der Autor ), dessen Leben am Rande von gesellschaftspolitischen Ereignissen doch recht unspektakulär verläuft. Als sein Sohn Lawrence 1986 sieben Monate alt ist, verlässt ihn überraschend seine deutsche Frau Alissa. Es stellt sich heraus, dass sie ihren Sohn nie gestillt hat, weil der Wunsch zu gehen, offenbar schon lang in ihr reifte. So wie sie schreibt auch Roland Baines gelegentlich. Doch sie wird eine bekannte Autorin, er bleibt der Gelegenheitsdichter, Tennisspieler und Klavierspieler, in keiner Disziplin überragend. Als Alissa Roland verlässt, schaltet er sogar die Polizei ein, denn er kann nicht fassen, dass sie ihm wirklich nur eine kurze Mitteilung hinterlässt.
Zeitlich nicht chronologisch fächert Ian McEwan nun die Biografie von Roland auf, er erzählt von den Eltern, den Schwiegereltern und dem Missbrauch, den Roland als Jugendlicher mit 14 Jahren so nicht beschrieben hätte. Miriam Cornell, seine Klavierlehrerin, vor der er doch Angst hatte, wird ihn sexuell erwecken und über Jahre, die er im Internat verbringt, zu sich ins Haus beordern.
Parallel zu den Geschehnissen in Rolands Leben ereignet sich die Kubakrise, die Katastrophe von Tschernobyl, die Mauer fällt und in Erzählungen erfährt Roland, dass das Leben seines Schwiegervaters mit der Widerstandsbewegung der „Weißen Rose“ in München zu tun hatte.
Ausführlich bis in kleinste Details beschreibt Ian McEwan seine literarischen Figuren, ihre Beweggründe, ihre Gedanken, ihre Gefühle und den Missbrauch, der Roland sein Leben lang beeinflussen wird.
So streiten sich in einer Tour Alissa und ihre Mutter, die für den Vater angeblich ihre schriftstellerische Karriere aufgegeben hat. Versunken im kleinbürgerlichen Leben und Mittelmaß, mit einem konservativen Anwalt als Ehemann hatte die Mutter von Alissa ganz andere Träume. Nun scheint die Tochter den gleichen Weg einzuschlagen und befreit sich durch ihre Flucht aus der Ehe und vom Muttersein. Immer neue Erzählfäden legt er für die Lesenden aus und überlässt ihnen deren Verknüpfung zu einem Ganzen.
Roland jedenfalls schlingert durchs Leben, ohne zu wissen, wohin er eigentlich will, was ihn wirklich antreibt. Sein Anker ist der Sohn, um den er sich bei aller Hilflosigkeit rührend kümmert.
Alissa wird er Jahre später treffen. Sie hat ihrer Mutter gegenüber ziemlich klar formuliert, warum sie ihren Mann verlassen musste. Für Roland eine Demütigung, führt doch ihre Härte und Zielstrebigkeit Alissa zu wahrem Erfolg als Schriftstellerin.

Mögen biografische Parallelen zwischen Autor und Hauptfigur bestehen, so scheinen diese doch nur in wenigen Passagen auf.

Rolands Geschichte und seine „Lektionen“ ziehen sich, stellenweise fantastisch geschrieben, stellenweise auch zu langatmig, bis in die Gegenwart und spiegeln so ein gesellschaftliches Panorama über eine lange Zeitspanne.