Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum, Penguin Verlag, München 2018, 288 Seiten, €28,00, 978-3-328-60005-3

„Wir lernten nichts über die Geschichte unserer Heimatstadt. Wir lernten keine einzige Strophe unserer Nationalhymne. Wir lernten keine alten Volkslieder. Wir taten uns schwer mit der Bedeutung des Wortes HEIMAT.“

Nora Krug reiste als Studentin von Berlin in die USA und blieb. Ihre erste Begegnung in New York muss sie tief erschüttert haben, denn sie lernte eine Frau kennen, die im Konzentrationslager war und die eine Aufseherin „sechzehn Mal im letzten Moment aus der Gaskammer geholt hatte“.

Wie reagiert man auf so einen Menschen? Fühlt man sich als Deutsche im Ausland schuldig oder denkt man, man hat mit der Vergangenheit des eigenen Landes ja gar nichts zu tun?

In einem Interview sagte Nora Krug: „Wenn man im Ausland lebt und auch über lange Zeit im Ausland lebt, dann nimmt man ganz natürlich sein Heimatland aus einer ganz neuen Perspektive wahr und man wird ja jeden Tag konfrontiert mit der Kultur anderer Menschen und muss dann immer wieder für sich überlegen: ‚Wer bin ich eigentlich?‘ Dabei ist mir natürlich aufgefallen, dass viel mehr an mir deutsch ist als ich das vielleicht vorher erahnt hätte. Ich habe auch manche Dinge an Deutschland mehr vermisst, als ich mir das immer so vorgestellt hatte, gleichzeitig aber, wenn ich nach Deutschland zurückkomme, um meine Familie zu besuchen, meine Eltern zu besuchen, merke ich dann immer wieder, dass ich hier doch auch nicht mehr so ganz reinpasse“.

Ausgehend von diesen Gedanken recherchierte die Künstlerin Nora Krug nach zwölf Jahren in den USA die Geschichte ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg und zeichnete diese nach. Entstanden ist ein illustriertes farbiges Tagebuch über Deutschland, das zeigt, wie stark die Frage nach Schuld und Unschuld das Heimatgefühl prägt. Ihren klar gezeichneten und handgeschriebenen Bildergeschichten fügt Nora Krug mit Fotografien, Archiv- und Flohmarktfunden zu einem völlig neuen Ganzen zusammen.

Interessant ist der Katalog deutscher Dinge, der das Buch durchzieht. An erster Stelle steht Hansaplast, gefolgt vom Kleber Uhu, Brot, Wärmflasche oder Wald.

Seltsam wirkt auf Nora Krug ihr plötzliches Interesse für Römergläser, Kuckucksuhren und Korkenzieher mit Weinrebengriff, die sie in Deutschland nie besitzen wollte. Die Distanz treibt seltsame Blüten.

„Und dennoch – je länger ich fort bin, desto mehr entgleitet mir das Bewusstsein von meiner deutschen Identität. Meine Heimat ist ein Echo, ein Wort, das einst in die Berge gerufen und seither vergessen worden ist. Ein unverständlicher Widerhall.“

Nora Krug geht weit in ihrer Familiengeschichte zurück und erzählt die Geschichte der fast anonymen Masse der Mitläufer und sagt: „Und dann ist mir bei der Arbeit an dem Buch immer mehr bewusst geworden, dass gerade das das ist, was mich interessiert, also die Mitläufer, diejenigen, die sich praktisch in der Grauzone des Krieges befinden, weil man deren Schuld beziehungsweise Unschuld viel schwieriger nur nachweisen kann. Das ist genau das, was mich interessiert: Wie geht man mit sowas um? Es ist sehr leicht als in Deutschland lebender Deutscher oder lebende Deutsche zu sagen, die meisten haben mitgemacht, die meisten waren Mitläufer, mehr ist dazu nicht zu sagen, aber es ist mehr dazu zu sagen, weil jeder Mensch, jeder Mitläufer auch Entscheidungen getroffen hat, die er oder sie vielleicht nicht hätten treffen müssen oder Dinge getan hat oder auch Dinge nicht getan hat, die sie oder er hätte tun können, die vielleicht geholfen hätten. Mein Ziel war es, konkrete Fragen zum Leben meines Großvaters zu stellen und mir ganz genau zu überlegen: Hätte er die Entscheidung wirklich treffen müssen, die er getroffen hat?“

Vielleicht ist dieses deutsche Familienalbum, dass weder ein Comic noch eine Graphic Novel ist, das richtige Buch zur richtigen Zeit, ein Werk gegen den aufkeimenden Nationalismus nicht nur in Deutschland, offenen Rassismus und unfassbare Judenfeindlichkeit.