Anna Schneider: Grenzfall – Ihr Schrei in der Nacht, Taschenbuch, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2022, 413 Seiten, €10,99, 978-3-596-70546-7

„Sein Gegenspieler war ihm haushoch überlegen gewesen. Ein Mann, der immer noch frei herumlief. Dem er nie etwas hatte nachweisen können. Dieser Wagen würde allzu gut zu ihm passen. Aber war der Grund genug, ihn zu verdächtigen? Hier in Innsbruck? Weit weg von Wien? Oder war das alles bloß eine fixe Idee?“

Noch im April nach der Pandemie plagt die Bewohner der Grenzregion zwischen München und Innsbruck ein später Kälteeinbruch mit enorm viel Schnee. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt verschwinden in der Jachenau drei Personen, zwei junge Frauen und ein junger Mann. Oberkommissarin Alexa Jahn lässt sich sofort auf den ersten Vermisstenfall ein, auch wenn die junge Frau gerade mal zwei Stunden überfällig ist. Eigentlich wollte sie zu ihrem Geburtstag zu ihren Eltern auf den Hof fahren, ist aber nie angekommen. Instinktiv ahnt Alexa, dass irgendetwas nicht stimmt, obwohl sie eigentlich eher mit ihren eigenen privaten Problemen beschäftigt ist. Immerhin weiß sie nun, nach über dreißig Jahren, wer ihr Vater ist. Ausgerechnet der Ermittler aus Innsbruck, Bernhard Krammer, ein guter, aber doch von den Jahren und auch Misserfolgen ausgelaugter Polizist. Seine Ehe ist geschieden und irgendwie steht Krammer zur Zeit neben sich. Als in Innsbruck dann zwei Studentinnen aus ihrer Unterkunft verschwinden, erinnert Krammer der Fall an seine größte Niederlage, vier tote Frauen in Wien und Krammer kann dem feixenden Täter, Roland Perski, nichts nachweisen.
Der Lesende weiß mehr und kann doch die Brutalität der Entführer kaum ertragen.
Erst der gestohlene schwarze BMW aus Deutschland, der an jeweils beiden Wohnorten der Entführten gefunden wurde, führt die deutsche und die österreichische Polizei wieder zueinander.
Doch zu diesem Zeitpunkt ist Alexa in ihren Ermittlungen schon ziemlich weit. Die Tragik, eines der Opfer ist bereits hingerichtet.
Nicht gerade sympathisch wirken die Menschen, die in der Jachenau leben. Erzkatholisch geprägt, wortkarg und irgendwie unzugänglich begegnen sie den Polizisten. Es scheint, als ob die alten Ordnungen hier noch ihren Bestand haben. Die Frau gehört ins Haus und der Mann hat das Sagen. Kein Wunder, dass eines der Opfer, Juliana Hocke, diesem ihrem Zuhause nach München entfliehen wollte.
Trotz aller Widersprüche hält Bernhard Krammer an seiner These mit Roland Perski fest, auch wenn seine Kollegin Roza Szabo immer wieder versucht, aus anderen Richtungen zu denken.
Seltsam teilnahmslos benehmen sich auch die Studenten im Wohnheim, die auf das Verschwinden der Kommilitoninnen mit Hassmails oder Desinteresse reagieren.

„Die jungen Menschen, die ihm heute gegenübergesessen hatten, waren von einer derartigen Unlust gewesen, dass er nur schwer an sich halten konnte. Die Frauen, die in einer seltsam affektierten Tonlage sprachen wie Kleinkinder, denen die Mama ihren Lolli weggenommen hatte, hatte ihn rasend gemacht. …. Die Männer waren nicht besser, mit ihren sauber rasierten Bärten und ihrem Fitnesskult. Alles drehte sich bloß um möglichst perfekte Äußerlichkeiten.“

Wenn Krimis auch die gegenwärtige Wirklichkeit widerspiegeln, dann zeigt dieser Fall, dass die sozialen Medien und die offensichtlichen, verschärften Probleme zwischen Männern mit Minderwertigkeitsgefühlen und Frauen, die für sich selbst einstehen, Spuren hinterlassen.

Bernhard Kammerer und Alexa Jahn als Vater und Tochter gehen in diesem zweiten Band nun doch endlich aufeinander zu. Roland Perski jedoch, Kammerer hatte wie immer den richtigen Riecher, ist wieder entwischt.

Wie immer: spannend, am Puls der Zeit und stellenweise traurig.