Ragnar Jónasson: Frost, Aus dem Isländischen von Anika Wolff, btb Verlag bei Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2021, 301 Seiten, €16,00, 978-3-442-75931-6

„Der Mörder stürzt sich vom Balkon, von seinem schlechten Gewissen überwältigt. Dadurch war Gerechtigkeit hergestellt und der Fall gelöst. Keine weiteren Ermittlungen – der unangenehme Nebel, der über dem Sanatorium lag, würde sich lichten, Tinna und ihre Kollegen standen nicht mehr unter Verdacht.“

Helgi Reykdal ist von seinem Studium in Großbritannien nach Reykjavík zurückgekehrt. Der Dreißigjährige muss noch seine Abschlussarbeit schreiben und dann kann er in den Polizeidienst zurückkehren oder vielleicht doch nochmal ins Ausland gehen. Allerdings scheint bei den Reykdals der Haussegen öfter mal schief zu hängen, denn immer wieder beschweren sich die Nachbarn über die lauten Streitereien des Ehepaares. Bergþóra, Helgis Frau, ist mit allem unzufrieden. Sie will unbedingt Sicherheit, eine Wohnung kaufen, Kinder. Doch Helgi kann sich nicht festlegen und verkriecht sich immer mehr hinter seine Kriminalromane, die ihm sein Vater, ein Antiquar, vererbt hat. Mit Agatha Christie kann sich der künftige Ermittler so richtig entspannen, besonders nachdem auch noch der Fernseher in einem Streit zertrümmert wurde.
Zeitlich versetzt und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt der isländische Autor nun von Helgis Recherchen zu seiner Abschlussarbeit im Jahre 2012, aber auch von den Geschehnissen 1983 im stillgelegten Tuberkulosesanatorium in Akureyri. Hier folgen die Lesenden der jungen Krankenschwester Tinna, die, wie es der Zufall oder das Schicksal will, zwei Leichen am Morgen finden wird. Zum einen entdeckt Tinna die nicht gerade sympathische Krankenschwester Yrsa, die offensichtlich vor ihrer Ermordung gefoltert wurde und den Oberarzt Friðjón, der aus dem Fenster in den Tod gestürzt ist. Schnell beschuldigt der noch unerfahrene Kriminalkommissar Sverrir, obwohl seine Kollegin Hulda Hermannsdóttir davon abgeraten hatte, den Hausmeister Broddi und schickt ihn in Untersuchungshaft. Doch Broddi ist nichts nachzuweisen. Nur die Lesenden wissen, dass Tinna gern mal die Unwahrheit sagt und ziemlich naiv sich auf den jungen Ermittler stürzt, den sie dann auch wirklich heiraten wird. Als dann der Oberarzt angeblich Selbstmord begangen hat, wird er kurzerhand zum Täter erklärt.
Schlechte Polizeiarbeit von Anfang bis Ende, denn der Fall, der sich vor dreißig Jahren zugetragen hatte, wurde durch die Faulheit des Ermittlers und seinem Unwohlsein in der Pension in Akureyri nie richtig aufgeklärt. Davon geht auch Helgi aus, denn er befragt alle Beteiligten und stößt eher auf Ablehnung als Mitarbeit. Tinna weigert sich vehement dagegen, mit Helgi zu sprechen.
Dass sie dann nach so langer Zeit auch noch ermordet wird, führt zu Helgis vorzeitigem Eintritt in den Polizeidienst.

In einer kargen, oft sehr vereinfachten Sprache entsteht ein Bild von einem wirklich tristen Island, in dem die Leute sich misstrauen, wenig Nähe zulassen und eher hinter ihren Wohnungstüren in Einsamkeit verschanzen. Es geht um häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, aber auch Mord.
Helgi weiß, dass er sich mit seiner Frau, die als Sozialpädagogin arbeitet, nur eine kleine Wohnung kaufen kann. Im Laufe der Geschichte wird auch deutlich, dass Bergþóra Alkoholprobleme hat und gewaltsam auf ihren Mann losgeht. Auch wenn sich Helgi Hilfe sucht, scheint er mit seinem Leben zu spielen. Niemand hat sich vor dreißig Jahren für die Opfer interessiert. Niemand hat in der Geschichte des Sanatoriums recherchiert, um nachzuvollziehen, ob nicht vielleicht hier ein Tätermotiv zu finden sein könnte.

Ragnar Jónasson konzentriert sich nicht auf die Psyche seiner Figuren. Er stellt sie in den Raum und beobachtet die Reaktionen der anderen auf sie. So sind sie eben nur unsympathisch, wie Helgis Vorgesetzter Magnus, unglücklich, wie die Krankenschwester Elisabet, zu gesprächig als junge Frau und zu verschlossen als alte Frau, wie Tinna oder einfach nur gewalttätig, wie Bergþóra.

Helgi wird den Fall mit seiner Hartnäckigkeit lösen und sich gleich mal ins Büro von Hulda setzen, die seltsamerweise einfach so von der Bildfläche verschwindet.
Dabei ist gerade Hulda Hermannsdóttir in den vorangegangenen Romanen des isländischen Autors eine der Hauptfiguren. Offenbar folgt ihr nun der neue Kommisar Helgi.