Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen, Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger, Verlag Kein&Aber, Zürich 2020, 221 Seiten, €24,00, 978-3-0369-5820-0

„Im Umgang mit Menschen kam es ihm manchmal so vor, als würde er einen Greifer bedienen, einen dieser Spielzeugautomaten an Strandpromenaden, mit denen man einen Preis zu grapschen versuchte, was jedoch fast nie gelang, weil sich die Kralle nur ungenau bewegen ließ und man viel zu weit weg stand.“

Wieder spielt Anne Tylers diesmal kurzer Roman in Baltimore. Im Mittelpunkt steht der dreiundvierzigjährige Micah Mortimer, der als IT-Spezialist und Freelancer sein Leben fristet. Da die Einnahmen aus dem Job nicht reichen, arbeitet er auch noch als Hausmeister. Nur keinen ständig zeternden Boss vor der Nase haben, sein eigener Herr sein, das schwebt dem ruhigen Mann vor.
Diszipliniert absolviert Micah in immer gleichen Rhythmen sein Leben. Er putzt gern, am Wochenende reinigt er meistens den Kühlschrank, geht joggen und hat eine leicht matronenhafte Freundin, Cassia Slade. Man sieht sich nicht jeden Tag, verbringt gemütlich Zeit miteinander und ist somit nie allein. Alles könnte so ruhig weiterlaufen, würden da nicht diverse Probleme auf Micah zusteuern. So lebt Cass in der Angst, dass sie ihre Wohnung verlieren könnte. Micah rührt keinen Finger, signalisiert zwar Anteilnahme, aber das war es dann auch schon. Als ein junger Mann, namens Brink Bartell Adams vor der Tür steht, wird Micah kurzzeitig auch noch zum Vater, was sich dann allerdings als Irrtum herausstellt. Cass erhofft sich mehr Unterstützung von ihrem Freund, doch dieser quartiert einen fremden jungen Mann bei sich ein und sie steht außen vor.
Sie trennt sich kurzerhand.

„Wenn Micah aus seinen früheren Beziehungen eine Erkenntnis gewonnen hatte, dann die, dass es unschön wurde, wenn man Tag und Nacht mit einer Frau zusammenlebte.“

Als Micahs Chaosfamilie, immerhin hat er drei Schwestern mit jeweils großen Familien, von seinem Schlamassel erfahren, wird klar, Micah hat keine Ahnung, wie man sich verhält. Warum, auch wenn er nicht sein Sohn ist, sorgt er sich nicht um Brink, dessen Mutter ihm ständig eine SMS nach der anderen schickt? Warum informiert er nicht Lorna, seine einstige College-Liebe, mit der er nie geschlafen hat? Warum kämpft er nicht um Cass?
Unverbindlich kümmert sich Micah um jedes Computerproblem, dafür wird er bezahlt und doch hat er keine Ahnung, wie das Leben eigentlich läuft.
Sicher hat er den Wunsch, alles richtig zu machen, aber eigentlich folgt ein Fehler dem anderen und Micah rührt sich nicht. Oder doch?

Anne Tyler bleibt sich treu, sie beobachtet ihre so arglosen, kleinmütigen Figuren genau und lässt sie auf unspektakuläre Weise ihren Weg gehen. Sie könnten unsere Nachbarn sein.