Anna Quindlen: Der Platz im Leben, Aus dem Englischen von Tanja Handels, Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2019, 363 Seiten, €20,00, 978-3-328-60070-1

„In Wahrheit waren die meisten Ehen doch wie Luftballons: Einige wenige platzten ohne Vorwarnung, aus den allermeisten aber wich langsam die Luft, bis nur noch ein trauriges, knittriges Etwas ohne jeden Auftrieb übrig war.“

Charlie und Nora Nolan leben seit langer Zeit auf der Upper West Side. Sie besitzen ein eigenes Haus, dessen Wert ziemlich gestiegen sein muss. Die Nolans verstehen sich gut mit ihren Nachbarn und diskutieren gern über Kinder, Hunde und Immobilienpreise. Die 48-jährige Nora arbeitet Vollzeit als Geschäftsführerin in einem Museum für Juwelen und Schmuck, der 52-jährige Charlie ist mittlerweile ein etwas frustrierter Investmentbanker ohne Aufstiegschancen. Die Zwillinge Rachel und Oliver gehen ihren Studien nach und bringen ihrem ehemaligen, energischen Kindermädchen Charity um ihr eine Freude zu machen, die schmutzige Wäsche mit. Der altersschwache Hund Homer hütet das Haus und eröffnet allein durch seine Anwesenheit immer ein Gesprächsthema mit neu zugezogenen Mietern in der Straße. Nora ist mit vielen Frauen, die ebenfalls arbeiten, locker befreundet. Durch die abgezirkelte Straße mit einer Einfahrt hat sich eine Gemeinschaft der Besitzer herausgebildet, die mal zusammen feiern, sich aber auch gehörig auf den Geist gehen können. Ein Kandidat ist George, der besonders Nora und alle anderen mit seinen Memos den letzten Nerv raubt. Und da ist noch Ricky, ein fleißiger Handwerker. Er arbeitet für die dankbaren Hausbesitzer auch am Wochenende, nur George versucht Rickys Preise zu drücken.

Aus Noras Blickwinkel entsteht vor dem inneren Auge des Lesers ein Bild vom gut situierten amerikanischen Mittelstand. Unübersehbar ist, dass die farbigen Unterprivilegierten wie Ricky und Charity im Servicebereich arbeiten und „den Laden zusammenhalten“, die gut Ausgebildeten allerdings die höheren Positionen einnehmen. Nora hat einen Anruf von Charlies Chef, den er nicht sonderlich schätzt, erhalten und dieser bietet ihr eine Stellung bei einer von im gegründeten Stiftung an.
Als nicht gerade ehrgeizig sind Nora verschiedene Arbeitsstellen geradezu in den Schoß gefallen. Charlie ist ziemlich sauer als er von dem Treffen erfährt. Er hadert mit seinem beruflichen Leben, würde gern „jemand“ sein, was in New York ziemlich schwer zu sein scheint. Schon seit längerer Zeit möchte Charlie aus der Stadt fortziehen, aufs Land, in ein Haus mit großem Garten. Aber Nora kann sich nicht dazu durchringen. Beider Ehe ist in Schieflage geraten, sie empfindet ihren Mann, der einfach zu viel trinkt und der den eigenen Stellplatz fürs Auto, der ihm endlich zugesprochen wurde, als das Ereignis des Jahres betrachtet, als mittlerweile ziemlich nervig.

In Rückblenden und Erinnerungsfetzen lässt Nora ihre fünfundzwanzig Jahre Ehe mit Charlie Revue passieren. Sie haben alles zusammen durchgestanden, die Erziehung der Kinder, die Pubertät besonders von Rachel, die beruflichen Höhen und Tiefen, die Veränderungen und die Hektik der Stadt.
Neuerdings schwelt in der Straße der Nolans ein Konflikt an. Durch Bauarbeiten und andere Umstände muss der gutmütige und fleißige Ricky mit seinem Van in der Straße parken und immer wieder ergeben sich in den streng durchgetakteten Tagesabläufen der Bewohner Momente, in denen sie ihre Autos nicht aus den Einfahrten chauffieren können.
Eines Tages eskaliert die Situation und der bereits immer cholerische Jack von gegenüber schlägt mit einem Golfschläger auf Ricky ein, weil er selbst beim Hinausfahren seinen Außenspiegel zertrümmert hat. Später behauptet Jack, er habe nicht Ricky, sondern eher seinen Van schlagen wollen. Dagegen spricht, dass Rickys Bein mehrmals gebrochen, sein Knie schwer verletzt wurde und er vielleicht nie mehr gehen kann. Charlie, der im Laufe der Zeit von seiner liberalen zu einer konservativen Haltung abgeglitten ist, stellt sich auf Jacks Seite. Nora wendet sich voller Verachtung von ihrem Ehemann ab. Charlie bezeichnet Ricky als nur Dienstleistenden, während Nora ihn wirklich mag. Jacks brutale Tat unterwandert die Atmosphäre in der Straße, zumal alle ahnen, dass er mit einem guten Anwalt aus der Sache glimpflich davonkommen wird. Die Wut von Rickys Ehefrau entlädt sich auf Nora, die die Vorwürfe der Frau, deren Familie existentiell bedroht ist, verstehen kann, aber die falsche Person trifft.

Anna Quindlen beschreibt den Niedergang einer Ehe, die so hoffnungsvoll begonnen hat und nun dem Niedergang geweiht ist. Nichts verbindet die beiden, keine Lebensidee, nicht die Kinder und auch keine Kompromisse aus Liebe. Sie gehen konsequent in unterschiedliche Richtungen. Mögen Noras Kommentare zu vielen in ihrer geliebten Stadt New York zynisch sein, ehrlich ist sie zu ihrer Freundin, aber nicht zu sich selbst. Sie ahnt, dass sie an Charlies Seite schon lang unglücklich ist und ihn kaum noch ertragen kann, obwohl sie das nie zugeben wollte. Der Roman „Der Platz im Leben“ ist klug komponiert und berührt in literarischer Form paartherapeutische Fragen: Wieso verlieren einst Liebende sich aus den Augen? Warum verschwinden die großen Gefühle eines Tages?

„Manchmal musterte Nora Charlie von der anderen Seite des Zimmers und hatte das gleiche Gefühl wie beim Anblick ihres alten Rollschreibtischs aus Eichenholz. Sie wusste noch genau, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie ihn in der großen, staubigen Halle einer Antiquitätenmesse entdeckt hatte, auch wenn sie inzwischen hauptsächlich über seine schwergängigen Schubladen und splittrigen Ecken schimpfte. So schaffen es wohl die meisten, verheiratet zu bleiben: neun Zehntel Trägheit und ein Zehntel von diesen Momenten, …“

Kleine, feine Beobachtungen einer lebenserfahrenen Schriftstellerin und anschauliche wie witzige bildliche Vergleiche beleben diesen Eheroman.