André Hille: Das Rauschen der Nacht, Blessing Verlag in der Randomhouse Verlagsgruppe, München 2020, 254 Seiten, €20,00, 978-3-89667-654-2


„Die ständige Konfrontation mit dem, was noch zu erledigen war, gab mir seit Jahren das Gefühl einer provisorischen Existenz. Ich lebte permanent im Zustand des Unfertigen, ich schleppte einen riesigen Rucksack aus unerledigten Aufgaben mit mir herum, der mich zunehmend niederdrückte. Nichts und niemandem wurde man wirklich gerecht, irgendetwas kam immer zu kurz: die Firma, das Haus, die Kinder, die Frau, die Freunde.“

Der Ich-Erzähler Jonas lebt mit Birte, seiner Frau, und den Kindern Jeremias und Sophie, beide im Kindergartenalter, in der Nähe von Hamburg. Von der Stadt aufs Land gezogen, verbindet den ausgebildeten Journalisten und jetzigen Unternehmer einer Internetfirma wenig mit den Nachbarn. Mehr als drei Sätze könnte er mit ihnen nicht austauschen. Birte und er wohnen in ihrem Traumhaus, dass allerdings falsch verputzt wurde oder auch nicht. Da streiten sich nun die Baufirmen und die Hauseigner müssen dies aushalten. Lang kann das Hin und Her der Gutachten und Gegengutachten und das Gerichtsverfahren dauern. Allerdings steht der Winter vor der Tür und die Risse im Putz werden immer länger.

André Hille führt den Leser mitten hinein in diese Familienkonstellation und das Alltagsleben von Jonas und Birte. An Jonas‘ Seite wird dieser nun erleben, wie der vierzigjährige Familienvater bei der ersten Gelegenheit in Berlin sich eine Auszeit und Geliebte gönnt. Seine dreijährige Firma, die vom zweiten ungeduldigen Geschäftsführer Toni nicht mehr länger gesponsert werden kann, scheint am Abgrund zu stehen. Der Pitch in Berlin soll den Karren aus dem Dreck ziehen. Die Geschäftsidee, jedem der im Internet publiziert, die Möglichkeit zu geben, sich einen Abonnentenstamm aufzubauen, klingt gut, müsste allerdings finanziell unterfüttert und auch werbemäßig verbreitet werden.

Birte arbeitet ebenfalls als Schreibende, ist aber von ihren Themen Reisen und Psychologie, die möglichst oberflächlich daherkommen sollen, gefrustet. Eine Möglichkeit wäre, dass sie als Lehrerin arbeitet, aber ihr Motivation dazu geht ebenfalls gegen Null. Jonas wäre froh, dann gäbe es wenigstens ein festes Gehalt.

Finanzsorgen, anstrengende Kinder, die kreischend ihre Wünsche durchdrücken, Schwiegereltern, die Jonas‘ Selbstständigkeit nicht verstehen und ein Vater, der sich in den Tod säuft, bedrücken den Erzähler. Als sich endlich ein finanzstarker Investor ( auch hier spielt das Familienkapital eine
Rolle ) meldet, muss auch Jonas seinen Beitrag in Höhe von 25.000 Euro leisten. Interessant ist, dass André Hille hier die Ost-West-Karte spielt.
Jonas‘ Vater hat die Wende das Rückgrat gebrochen, er könnte seinem Sohn nichts bieten. Birtes Eltern, gut bürgerlich lebende ehemalige verbeamtete Lehrer, haben da einen ganz anderen Stand.

Jonas ist ein Sucher, er hält sich zu gute, dass er immer Wege findet, die ihn vor dem Schlimmsten bewahren. Als dann sein Vater plötzlich stirbt, seine Frau Birte auch noch schwanger ist und die Investitionssorgen wachsen, erwägt der Erzähler kurzzeitig den Ausstieg in ein anderes Leben, in Berlin, vielleicht mit der jungen Frieda.

Lebensnah liest sich der innere Monolog eines Mannes, dessen zweite Lebenshälfte gerade begonnen hat. Seine Konflikte spiegeln die gesellschaftliche Realität. Was ist sicher? Kann ich wirklich beruflich das verwirklichen, was ich schon immer gern wollte? Welche Entscheidungsfreiheiten habe ich ab einem bestimmten Moment im Leben?
Wie gnadenlos abhängig ist jeder Freiberufler? Wie schnell könnte ein Ausbruch bei entsprechender Rücksichtslosigkeit funktionieren? Welche Werte vertrete ich eigentlich?
Jonas als Mensch ist nicht unsympathisch. Ob Birte seine Aktivitäten in Berlin tolerieren würde, bleibt dahingestellt.
Klar ist, diese Geschichte liest man in einem Rutsch, denn sie ist literarisch exzellent geschrieben und sie berührt und regt zum Nachdenken an, auch wenn man nicht in Jonas Schuhen stecken möchte.