Claire Messud: Wunderland, Aus dem amerikanischen Englisch von Monika Baark, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021, 381 Seiten, €24,00, 978-3-455-00614-8

„Meine lebenslange, heimliche Überzeugung, etwas Besonderes zu sein, meine kostbare schlummernde Besonderheit wurde durch sie geweckt und genährt, wurde gierig nach ihnen und fürchtete sich zugleich: fürchtete die Macht, die sie über mich ausüben könnten und die sie allein schon durch diese Angst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ausüben würden.“

Nora Eldridge hat bisher als Lehrerin ein beschauliches Leben geführt. Zwar war sie mal kurz davor sich zu verheiraten, aber letztendlich war ihr der Mann dann doch zu langweilig. Die Siebenunddreißigjährige hat hohe Ansprüche an sich und sie hasst die Mittelmäßigkeit. Mit ihren künstlerischen Ambitionen jedoch ist sie noch nicht weit gekommen. In diesem Roman schreibt sie sich als Ich-Erzählerin ihr Wut von der Seele. Doch was hat sie so in Rage gebracht? Warum ist sie auf sich und das, was geschehen ist, so ärgerlich?

Immer wieder spricht Nora die Leser an, versucht sie für sich zu vereinnahmen, für ihr Handeln, für ihre Gedanken. Sie räumt ein, dass sie manchmal zum Größenwahn neigt und übertreibt.
Geboren wurde Nora 1967 und ist in Manchester-by-the-Sea aufgewachsen. Mag der weite Blick aufs Meer daran liegen, aber Nora wollte sich nie einengen lassen. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass Nora das Leben ihrer Mutter Bella kritisch gesehen hat. Als Hausfrau und Mutter zweier Kinder mit wenig Geld versuchte sich Bella Eldridge ohne Ausbildung erfolglos in verschiedenen Jobs. Nora sollte es besser machen, eine Studium absolvieren, eigenes Geld verdienen. Nun sitzt Nora allein zu Haus, sie hat wenig Kontakt zu ihrem älteren Bruder und seiner Familien und kümmert sich vor Ort um den kränklichen Vater.
Aber dann treten die Shahids in Noras Leben und plötzlich hat alles wieder einen Sinn.
Als Lehrerin des achtjährigen Reza Shahid, die Familie will nur ein Jahr in Cambridge, Massachusetts, bleiben, lernt Nora seine Mutter Sirena und später auch den Vater Skandar kennen. Sie ist Italienerin und erfolgreiche Künstlerin in Paris und er Wissenschaftler, der aus dem Libanon stammt. Die Welt öffnet sich nun 2004 für Nora, die als Amerikanerin irgendwie doch weit weg ist von den Geschehnissen. Immer enger werden die Bindungen zwischen Nora und den Shahids. Nora mietet gemeinsam mit Serina ein Atelier. Hier arbeitet sie an ihren Schaukästen, die in Miniaturform Räume von Künstlerinnen wie Emily Dickenson oder Edi Sedgewick zeigen und Serina beginnt mit ihrem Großprojekt „Wunderland“, angelehnt an den englischen Klassiker „Alice hinter den Spiegeln“ und der Geschichte um die Parallelwelt in der eigenen Welt.
Nora spürt, dass sie zu Serina mehr als nur freundschaftliche Gefühle entwickelt, sie fühlt sich aufgewertet, glücklich. Sie hütet sogar Reza, den sie wie einen Sohn liebt, wenn die Eltern zu Empfängen eingeladen sind. Auch Skandar, den sie verhalten siezt, kommt ihr immer näher.
In Rückblenden erinnert sich Nora an ihre Zeit vor den Shahids. Jetzt hat ihr Dasein eine Berechtigung. Doch inwieweit die Shahids Nora in ihr Leben lassen, bleibt fraglich. Die charismatische Serina teilt nicht all ihre Gedanken mit der Freundin Nora, obwohl diese sogar mit an ihrem Projekt arbeiten wird. Immer wieder wird aber auch Nora klar, wie ungleich in Wahrheit diese Beziehung ist, von der Nora partizipiert. Auch von Eifersucht auf Sirena geplagt, sieht Nora was diese hat, eine erfolgreiche Karriere, einen traumhaft schönen Sohn und attraktiven Mann.

Dieser obsessiven, wie auch toxischen Beziehung misstraut der Leser. Auch wenn Nora nicht gerade sympathisch wirkt, spürt doch der Leser, dass Sirena als Künstlerin gebieterisch und vor allem egoistisch ist. Mag Sirena herrlich inspirierend wie ihre Kunstwerke sein, eine Partnerin für Nora wird sie nie werden. Das versteht Nora als sie in Paris dann das „Wunderland“ in der Galerie betrachtet und eine schreckliche Entdeckung machen muss.

Sprachlich faszinierend nimmt Claire Messud den Leser in die Welt ihrer Protagonistinnen mit und legt tiefe seelische Verletzungen, aber auch widersprüchliche Charaktere frei, die zum einen faszinieren und in ihrer Exzentrik auch abstoßen.