Éliette Abécassis: Mit uns wäre es anders gewesen, Aus dem Französischen von Julia Schoch, Arche Verlag, Hamburg – Zürich 2021, 142 Seiten, €18,00, 978-3-7160-2797-4

„Warum begegneten sie einander mit so viel Respekt? Sie streckte die Hand vor, doch bevor sie diese alles verändernde Geste vollführen konnte, griff er nach seinem Handy. Er zeigte ihr ein Foto: Es handelte sich um ein Baby.“

Alles beginnt so vielversprechend. Sie begegnen sich als Studenten. Sie sind jung, sie glauben an die Zukunft, an die Liebe, an alles. Amélie kommt aus der Normandie und ist das Kind in der Mitte. Nicht sonderlich von der Mutter geliebt, die ihr auch noch sagt, dass sie nicht sonderlich schön sei. Streng erzogen sehnt sich die schüchterne Amélie, die Literaturwissenschaften studiert, um Lehrerin zu werden, nach Paris, nach Freiheit. Der attraktive Vincent liebt die Musik, spielt Klavier und lässt sich alles von seinem Vater, der auch mal zuschlägt, kleinreden. Er studiert BWL, ist Sozialist und leidet mit seinem Bruder, der an Aids sterben wird. Amélie und Vincent werden sich immer wieder über dreißig Jahre lang treffen, um sich in den glücklichsten oder schlechtesten Augenblicken wieder zu verlieren. Beide wagen es nicht, sich dem anderen zu offenbaren, obwohl jeder ahnt, dass der andere sein Seelenverwandter ist.

Immer im Perspektivenwechsel, mal aus Amélies, dann auch Vincents Sicht, verfolgt der Leser und die Leserin beider Leben. Mag Amélie das zweite Treffen mit Vincent durch ihr zögern und zaudern, ihr schwaches Selbstbewusstsein verpasst haben, so kann es nicht die Ursache sein, warum die beiden nicht zueinander kamen. Zehn Jahre später sehen sich beide auf einer Silvesterparty 1999 und Vincent ist bereits mit Sophie, einer exaltierten Schauspielerin, verheiratet. Ihn als Pflichtmenschen, der in einer Consulting-Firma arbeitet, zieht Sophies lebendige Aura an. Als Ehefrau wird sie sich kaum um den Haushalt, noch um die Kinder kümmern. Er kann immer wieder entfliehen, indem er auf Geschäftsreisen geht. Sie betrügt ihn, überhäuft ihn mit Vorwürfen, redet ihm ein, es sei depressiv und weiß doch, dass er keine andere hat. Sie gibt ihren Beruf auf und er ist der Verdiener. Schwer ist der Prozess der Loslösung, denn er liebt die Kinder über alles und sein neues Business ist ausgerechnet mit seinem Schwiegervater verbunden.
Auch Amélie entscheidet sich für einen Menschen, der sich kaum für sie interessiert. In Zeiten als die Menschen noch Bücher gelesen haben, gibt sie ihren Lehrerberuf auf und kauft eine Buchhandlung. Fabrice, Amélies ruhiger, bodenständiger Mann, arbeitet als Herzchirurg. Doch warum funktioniert auch diese Ehe nicht? Er entfernt sich von ihr, ist hartherzig, geizig und kaum an seinem Kind interessiert. Er beginnt zu trinken und hat eine Affäre mit einer anderen Frau und auch diese bekommt ein Kind. Amélie verdrängt ihre unglückliche Ehe, da sie ihren Sohn über alles liebt. Niemand trifft eine Entscheidung. Im Gegenteil, beide bleiben in ihren Ehen und bekommen noch ein zweites Kind. Immer wieder sehen sich Amélie und Vincent, doch sie können sich nicht ehrlich sagen, wie es in ihren Leben wirklich aussieht.
Als Leser oder Leserin blättert man verzweifelt die Seiten um und kann nicht fassen, wie tief die beiden in den Abgrund stürzen. Die Kinder sind kaum im Teenageralter und schon sind Familien zerrissen und lieblose Eltern stürzen sich in neue Beziehungen.
Amélie muss ihre Buchhandlung aufgeben, denn die sozialen Medien, wie Netflix okkupieren die einstigen Leser. Vincent verliert alles, als er sich endlich zu einer Trennung entschließen kann.

Zu früh getroffen, kein gutes Timing beim zweiten Mal und auch beim dritten Mal gibt es kaum den Entschluss, sich endlich zu offenbaren.
Wann weiß man, dass die wahre Liebe vor einem steht? Mit zwanzig oder fünfzig? Wie entscheidend ist die Kindheit und der Einfluss der Eltern auf die Wahl des künftigen Partners?
Warum erfüllen sich die Erwartungen in Ehen nicht und wie genau kennt man wirklich einen anderen Menschen?
Dieses schmale Buch wirft viele Fragen auf und gibt auch eine Antwort, aber diese kommt leider sehr spät.