Lucy Foley: Abendrot, Aus dem Englischen von Ivana Marinović, Penguin Verlag, München 2022, 480 Seiten, €15,00, 978-3-328-60228-6

„Das Blut auf dem Fell der Katze. Dass keiner von Bens Nachbarn gewillt scheint, mir seine Zeit zu schenken – und mehr noch, dass sie richtiggehend feindselig wirken. Dass es sich einfach anfühlt, als wäre hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.“

Als Jess Hadley, die Halbschwester von Benjamin Daniels, in Paris ankommt, ahnt sie nicht in welcher wirklich feinen Wohngegend, im Pariser Stadtviertel Montmartre, ihr Bruder wohnt. Zugegen Ben hatte als Kind mehr Glück als Jess, denn er wurde von einer reicher Familie adoptiert. Teilen Ben und Jess die gleiche, früh verstorbene Mutter, so haben sich ihre Väter nie für die Kinder interessiert. Als Jess nun völlig abgebrannt aus London in Paris ankommt, muss sie allerdings feststellen, dass ihr Bruder trotz Ankündigung ihres Besuchs nicht anwesend ist und auch auf keine Telefonate reagiert. Ben hat als Journalist all seine Social-Media-Profile gelöscht, außer Insta. Auf der Suche nach ihrem Bruder befragt Jess die Nachbarn im Haus und auch hier stößt sie auf eine Wand des Schweigens.
Lucey Foley lässt Jess, aber auch die Nachbarn als Ich-Erzähler zu Wort kommen. Da ist die alte Concerge Loge, die so einige Geheimnisse der Bewohner des Hauses kennt. Ohne sie je eines Blickes zu würdigen, und immer im Kommandoton redet das Ehepaar aus dem Penthouse mit Loge. Sophie und Jacques Meunier sind reich, arrogant und eindeutig unsympathisch. Sie schauen auf alle herab und Jess in ihrer abgerissenen Kleidung ist für sie unsichtbar. Allerdings wissen die Lesenden, dass Sophie erpresst wird und auch ihre Wertsachen veräußert, um zu zahlen. Als jemand Jess offensichtlich im Weinkeller einsperrt, befreit sie der so smarte Nick, der Freund von Ben, der ihm die Wohnung in diesem Pariser Haus vermittelt hat. Jess glaubt zu Beginn, dass Nick Engländer sei, aber bald stellt sich heraus, er ist in Wahrheit Franzose. Hat er Jess bewusst getäuscht, ist er wirklich zur Polizei gegangen und hat Bens Verschwinden angezeigt? Jess ist sich nach einigen Erfahrungen im Haus nicht mehr sicher. Auch Mimi und ihre Mitbewohnerin Camille wirken nicht gerade vertrauenswürdig. Allerdings sollten sie auch Jess nicht trauen, denn sie ist auch ziemlich neugierig und scheinbar mit allen Wassern gewaschen. Zu gern geht Jess in den Wohnungen der Fremden in die Toilette, um herumzuschnüffeln und auch Dinge mitgehen zu lassen. Als Jess eine Visitenkarte eines Journalisten vom Guardian in Bens Sachen findet und eine Karte von einem Club namens „Der kleine Tod“ ( ein Euphemismus in Frankreich für Orgasmus) trifft sie sich mit ihm. Ben hat wohl an einer wichtigen Story gearbeitet.
Nach und nach stellt sich auch durch die Erzählungen der Bewohner im Haus heraus, dass Ben durch seine charmante und zugewandte Art alle im Haus um den Finger gewickelt hat. Seine neugierigen Fragen jedoch stießen bei Nick, aber auch Antoine auf Skepsis und Angst. Auch Jess erlangt durch ihre Neugier neue Erkenntnisse, die ihr allerdings nicht weiterhelfen. Nach und nach wird deutlich, dass alle im Haus miteinander zu tun haben. Mimi ist zum Beispiel die Tochter der Meuniers, Nick und Antoine allerdings sind die Söhne aus der ersten Ehe von Jacques, der sie mit seiner herzlosen Art zu Versagern gestempelt hat. Er favorisiert Ben, genau so wie sich Mimi fast krankhaft in Ben verliebt und Sophie eine Affäre mit ihm begonnen hat. Ob Jacques wirklich sein Geld mit Weinen verdient, bleibt fraglich. Jess gelangt hinter jedes Geheimnis in diesem Haus und sie wird wie Ben in höchste Gefahr geraten, denn niemand von den Hausbewohnern möchte seinen exklusiven Status verlieren und sich in die Karten schauen lassen.

Keine Frage, die englische Autorin Lucy Foley versteht es Spannung aufzubauen und hinter die Fassaden der Schönen und Reichen zu sehen und diese erbarmungslos herunterzureißen.