Therese Anne Fowler: Gute Nachbarn, Aus dem amerikanischen Englisch von Nicole Seifert, Droemer Verlag, München 2021, 349 Seiten, €20,00, 978-3-426-28251-9

„Er musste nur die richtigen Knöpfe drücken und seinen Einfluss nutzen. …
Dieser Junge hatte etwas genommen, was ihm hätte gehören sollen, und die Mutter des Jungen versuchte ihn ebenfalls zu berauben, und dafür würde sie bezahlen.“

Für Brad Whitman spielt es keine Rolle wie viele Bäume in North Carolina eingehen, weil finanziell einfach zu gut gestellte Leute sich riesige Häuser bauen können. Er hat das Geld und durch seinen Golfclub beste Kontakte. Die Welt steht ihm als weißem Selfmademan offen und seine Werbespots kennen sowieso alle Leute. Das wissen auch die Einwohner von Oak Knoll, die das Geschehen aus der Ferne beobachten und sich so ihre Gedanken machen.

Therese Anne Fowler wählt für ihren Blick auf das Geschehen die ungewöhnliche WIR-Perspektive, um dem Leser zu verdeutlichen wie die Mehrheit der braven Bürger über das, was geschehen wird, denkt. Bevor sich die „guten Nachbarn“ äußern, wird klar, dass es am Ende dieser Geschichte eine Beerdigung geben wird.

Monatelang erträgt Valerie Alston – Holt den Baulärm für das große Haus nebenan. Mit Trauer sieht sie, wie die Bäume und Pflanzen auf dem Nachbargrundstück gnadenlos weichen müssen. Nun sind sie da, die Whitmans, die ihr „kleines Königreich“ mit großer Terrasse und Pool beziehen. Großspurig will Brad Whitman als Inhaber der Firma Heizung, Lüftung, Klimaanlagen den schwarzen Jungen, der im Nachbargarten arbeitet, auch für sich tätig werden lassen. Er zahlt gut. Aber Xavier klärt Whitman auf, dass er hier wohne und seine Mutter durchaus keine alte Frau sei, der man unter die Arme greifen muss. Die verwitwete Valerie lehrt als Professorin für Ökologie und Agrarkultur an der Universität. Xavier wird bald nach San Francisco gehen und sein Musikstudium aufnehmen.
In gewisser Weise stoßen nun zwei Welten aufeinander. Hier diejenigen, die Geschäfte machen und durch wirtschaftliche Erfolge finanziell mächtig sind und da, die Welt der Menschen, die über ihre Umwelt nachdenken und klassische Musik lieben.

Die erste Begegnung zwischen den neuen Nachbarn läuft nicht sonderlich harmonisch. Doch als Xavier die Tochter des Hauses sieht, die siebzehnjährige Juniper, beginnt eine andere Geschichte. Juniper hat mit vierzehn Jahren, darauf ist die Familie stolz, ein Keuschheitsgelübde abgegeben. In ihrer teuren Privatschule wird sie dafür gemobbt. Juniper und ihre Mutter Julia ahnen nicht, dass Brad, den man vorher als gar nicht so übel eingeschätzt hat, längst eine gieriges Auge auf seine Stieftochter geworfen hat.
Julia ist in einem Wohnwagen groß geworden. Sie hat sich Brad nicht geschnappt, sondern wurde freundlich von ihm umworben. Sein Geld spielte sicher eine Rolle für Julia, als sie ihn heiratete.
Zu Beginn lädt Valerie Julia zu ihrem Buchclub ein. Natürlich ist Julia für soziale Einrichtungen ehrenamtlich tätig, die anderen Frauen arbeiten jedoch alle „richtig“. Julia ist eine Helikoptermutter, die Juniper und ihre jüngere Tochter Lily umkreist.
Alles wäre bis hierher, auch wenn Valerie und Julia vielleicht nicht beste Freundinnen werden, ganz gut. Doch dann beobachtet Valerie ihre großgewachsene Eiche, die langsam eingehen wird.
Der Grund: Das Wurzelwerk wurde durch den übergroßen Bau nebenan beschädigt. Mit der Baugenehmigung wurde eindeutig getrickst und Brad hatte dies selbstgefällig auch noch bei der ersten Begegnung mit Valerie zugegeben. Valerie verklagt nun die Baufirma und Brad Whitman. Ihr Anwalt fordert fast eine halbe Million Dollar. Die Professorin für Ökologie will diese Leute einfach nicht gewähren lassen, denn auch die Fällung ihres Baumes könnte teuer werden.

Brad Whitman tobt und klügelt einen absolut fiesen Plan aus, um seine Nachbarin in die Knie zu zwingen. Er ahnt nicht, dass auch er nicht Gott ist, der alles im Griff hat. Als er Xavier und seine jungfräuliche Stieftochter beim Sex erwischt, klagt er den schwarzen, jungen Vergewaltiger an, der Juniper mit Wein und einem Messer, dass im Raum lag, gefügig gemacht hätte.
Die Stimmung der Einwohner wendet sich auf eklatante Weise gegen Xavier, den viele seit Kindheitstagen kennen und dem nun eine langjährige Gefängnisstrafe droht. Der Oberstaatsanwalt fragt nicht, was wirklich geschehen ist. Er will seiner Karriere einen Schub verpassen und ein Schwarzer ist sowieso automatisch ein Vergewaltiger. Verblüfft registriert der Leser, dass ihm hier keine Geschichte aus dem vergangenen Jahrhundert erzählt wird.
Die Unschuldsvermutung vor einem Prozess spielt in den USA keine Rolle. Der Lynchmob wohnt gleich nebenan.

Rassismus, Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral der guten Nachbarn höhlen eine Gemeinschaft gnadenlos aus. Wie das geschehen kann, davon erzählt Therese Anne Fowlers Roman auf erschütternde Weise.