Jo Cotterill: Eine Geschichte der Zitrone, Aus dem Englischen von Nadine Püschel, Königskinder Verlag, Hamburg 2016, 254 Seiten, €16,99, 978-3-551-56036-0

„Jemand fängt mich auf. Diesmal, nur dieses eine Mal, muss ich mich nicht selbst auffangen. Ich muss nicht selbst innerlich stark sein, weil jemand anders für mich stark ist. Was für eine Erleichterung.“

Die elfjährige Calypso lebt mit ihrem Vater, der sich als Korrektor gern in seinem Zimmer verschließt, allein. Die Mutter ist gestorben, da war das Mädchen fünf Jahre alt. Von ihrem Vater hat sie gelernt, dass jeder mit sich allein klarkommen muss. Man sucht seine innere Stärke und dann braucht man niemanden. Und so lebt das Kind isoliert, ohne Freunde, ohne Trost, nur mit ihren Büchern. Doch dann, ohne dass Calypso gewagt hätte, zu suchen, ist plötzlich die Neue da, Mae. Auch sie liebt Bücher und die Mädchen verbringen immer mehr Zeit miteinander. Sie tauschen sich über Anne Franks Tagebuch aus, leihen einander ihre Lieblingsbücher. Calypso liebt das Zuhause von Mae, die Wärme, das zubereitete Essen, das Familienleben und das morsche Baumhaus, aus dem man doch etwas machen könnte. Wenn sie nach Hause kommt, hat der Vater selten eingekauft. Er schreibt an seinem Lebenswerk, der Geschichte der Zitrone. Calypso bereitet ihm Tee zu, kritisiert ihn nicht, nimmt Rücksicht und isst wie immer allein ihre überbackenen Bohnen. Zugegeben die Familie hat wenig Geld und doch bemerkt das Kind zum ersten Mal, im Vergleich zu Maes Familie, wie kalt und ungepflegt ihr Haus ist. Zwar hat sie ihre eigene Bibliothek, einen Raum sogar und doch nimmt ihr Vater sie nie in den Arm, setzt sich nicht mit ihr auseinander.

Ganz anders Mae, sie diskutiert mit dem Vater, streitet mit dem Bruder und wird von der Mutter in den Arm genommen, wenn sie weint.

nDurch die Freundschaft mit Mae erwacht Calypso aus ihrer Starre und benimmt sich manchmal emotional ziemlich überschwänglich, was die Freundin irritiert.

Als dann jedoch Mae das erste Mal zu Calypso nach Hause kommt, gerät der Nachmittag aus den Fugen. Mae bewundert die gemalten Bilder von Calypsos Mutter. Als das Mädchen der Freundin dann die Bücher ihrer Mutter zeigen will, die sie ja mal erben soll, stellt sie fest, dass in den Schränken nur Zitronen liegen. Der Vater hat die Bücher einfach in Kartons verpackt und hinters Haus ins Freie gestellt.

Calypso rastet total aus und bewirft den Vater mit seinen Zitronen.

Das Jugendamt schaltet sich ein, denn Maes Mutter, die Zeugin der Auseinandersetzung wird, kann nicht mehr nur zusehen.
Calypso besucht nun eine Selbsthilfegruppe, in der Kinder miteinander reden, die die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen müssen. Das Mädchen denkt immer mehr über die Lebensphilosophie ihres Vaters, der in Therapie gehen muss, nach.

Ist der Mensch wirklich eine Insel? Warum kann der Vater sie nicht lieben?

Hat er Angst, dass er sie auch verliert?

Viele Fragen beschäftigen das Kind und wenn sie die Geschichten der anderen Mädchen und Jungen in der Gruppe hört, die bipolare oder schizophrene Eltern haben, die sich in Depressionen oder Selbstmordphantasien flüchten, dann bekommt sie noch mehr Angst um ihren Vater. Zumal Calypsos Vater wieder in ein tiefes Loch fällt, gerade als er begonnen hatte, endlich mal zu kochen. Kein Verlag möchte sein Sachbuch über die Zitronen.
Jedoch endet die Geschichte von den beiden mit Leidenschaft lesenden Mädchen im Guten, denn Maes Eltern laden Calypso und ihren Vater zum Weihnachtsfest ein und vielleicht lassen sich ja auch noch einige Bücher von Calypsos Mutter retten.
Jo Cotterill hat eine einfühlsame, reale und berührende Geschichte über ein Mädchen geschrieben, das mit seinen Gefühlen einfach nicht klarkommt. Erst durch die Freundschaft, die das Kind stärkt, wagt sie es sich gegen den Vater, der in einem Kokon lebt, aufzulehnen und auch Dinge in Frage zu stellen. Allerdings könnte der Buchtitel irritieren und den interessierten Leser auf eine falsche Fährte führen.