Raffaela Romagnolo: Dieses ganze Leben, Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 265 Seiten, €22,00, 978-3-257-017144-3

„Niemand weiß, wohin wir gehen, niemand ahnt, dass wir uns mit Junkfood vollstopfen, das wir nicht essen dürfen, dass wir uns dort aufhalten, wo es nicht erlaubt ist …. Es ist unsere täglich Happy Hour, unsere Stunde Freigang, die Geheimtür, ….

Paola De Georgi ist die Erzählerin ihres eigenen Lebens, dass sie mit ihren sechzehn Jahren für unerträglich hält. Sie hat weder Freundinnen noch glänzt sie in der Schule mit guten Leistungen. Hineingeboren in eine wohlhabende Familie genießt sie das Privileg in einem Villenviertel zu leben und alles zu haben, was sie sich wünscht. Doch was hilft ein nagelneues Smartphone, wenn sie darauf sehen muss, wie andere sie heimlich gefilmt haben und sich über sie lustig machen. Paola findet sich fett und hässlich. Ihre Mitschülerinnen bezeichnen sie als die Dicke mit dem Pferdegesicht, die auch noch krumme Beine hat.
Nina, der rumänische Haushälterin, ist es untersagt mit Butter zu kochen. Paola soll endlich abnehmen, meint ihre frustrierte Mutter. Diese hat angeblich ihren Sitz in der Baufirma des Vaters aufgegeben, um sich halbtags um den behinderten Sohn Riccardo zu kümmern. Aber tief in ihrem Inneren hält sie es kaum mit ihren Kindern aus. Paola beschreibt ihre Mutter gnadenlos ehrlich, die nur ein Ziel hat, den BMI der Tochter zu senken. Immer schwingt in ihren Worten Sarkasmus, aber auch liebevolle Ironie mit, auch wenn es um den jüngeren Bruder geht.
An den Rollstuhl gefesselt, der Sprache kaum mächtig schiebt die Schwester den Bruder auf Geheiß der Mutter angeblich zum Golfplatz. In Wahrheit begeben sich die beiden eingedeckt mit allen möglichen Süßigkeiten in eine Gegend, die die Mutter hasst. Es ist das Margariten – Viertel, eine Sozialwohnungssiedlung, in der auch Antonio Ferrari wohnt, ein Junge aus Paolas Schule.
Er kann nicht fassen, wie viel Geld die De Georgis allein für Kosmetik ausgeben. Von dieser Summer lebt seine Familie einen Monat lang.
Paola freundet sich mit Antonio an, er kann ihr zeigen, wie normal andere Leute leben. Antonios Bruder Filippo spielt mit Richi Schach, und Paola erkennt, dass sie gar nicht wusste, dass ihr Bruder das kann. Für Paola ist Antonios Wohngegend, die Margariten – Siedlung eher wie Mordor aus „Herr der Ringe“. Und in gewisser Weise wird die Beobachtung der Ich-Erzählerin der Wahrheit sehr nah kommen, denn einst von den De Georgis als Grund und Boden aufgekauft, haben sie hier auch ihren Giftmüll deponiert. Die Carabinieri werden Paolas Zuhause durchsuchen, die Eltern sich über diesen Skandal in Schweigen hüllen. Aber Paola ist nicht mehr das Kleinkind, das nichts versteht. Ein heftiger Streit mit der Mutter bringt zwar keine Klarheit, aber die Sechzehnjährige dringt auf die Wahrheit, die ihr niemand erzählen will.
In kurzen Rückblenden erinnert sich Paola an die „guten“ Zeiten mit der Mutter, als sie noch das niedliche Kleinkind war.
Paola glaubt, dass sie erneut im Netz gemobbt wird, und beschuldigt in ihrer Verzweiflung Antonio, der sie wirklich mag und keine Möglichkeit bekommt, es ihr zu zeigen.
Immer tiefer versinkt das Mädchen in ihren Bücherwelten, die sie nicht verletzen können. Sie wünscht, sie könnte wie Ron Weasley aus „Harry Potter“ den Horkruxen in ihrem Leben Herr werden und sie bleibt an Anna Kareninas Seite, die ebenfalls mit ihrer unglücklichen Familie klarkommen muss. Doch die Bücher sind nicht das Mittel, um mit den Befremdlichkeiten des Lebens besser zurechtzukommen.
Zu gern folgen sicher auch jüngere Leser den Spuren der Hauptfigur von Raffaela Romagnolo. Ihre Paula erzählt in einem erfrischenden Ton von ihrem gehandicapten Bruder, den sie über alles liebt und ihrer Sehnsucht nach Normalität.
Paola erkennt noch nicht, was wirklich gut für sie ist. Aber sie ist auf bestem Wege.