Margaret Atwood: Die Zeuginnen, Aus dem Englischen von Monika Baark, Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2019, 576 Seiten, €25,00, 978-3-8270-1404-7



„Ich war erstaunt. Warum ließ Tante Lydia sie wieder zurück? Konvertiten gingen nie zurück – es war Verrat -, und wenn diese Person die kleine Nicole war, wäre es Verrat hoch zehn.“

Die kanadische Autorin Margaret Atwood gilt als Ikone des literarischen Feminismus. Nach mehr als 34 Jahren setzt sie nun mit dem neuen Roman „Die Zeuginnen“ ihren dystopischen Klassiker „Der Report der Magd“ fort. Atwood sagte, sie habe lange keine Fortsetzung geplant. Aber reelle politische Ereignisse, insbesondere Versuche, die Rechte der Frauen zu beschneiden, hätten sie bei ihr zu einem Umdenken geführt. Veröffentlicht per unwürdigem Marketinghype, der an die Geheimniskrämerei und Kontrollsucht von J.K.Rowling und ihren „Harry Potter“ erinnert, wurde das Buch zeitgleich in mehreren Ländern auf den Markt gepumpt. Ob das deren Verkaufszahlen steigern wird? Wer die erfolgreiche Serie gesehen hat, muss nicht unbedingt ein neugieriger Leser sein und wartet lieber auch die Serienfortsetzung.
Und doch, der Roman liest sich mit seinen zahlreichen Dialogen, wenigen Blicken nach innen, sondern Action mit immer neuen Wendungen atemberaubend spannend. Ein Pageturner, keine Frage.

Drei Zeuginnen, drei Frauen unterschiedlicher Generationen werden sich gegen den Totalitarismus der Männer in Gilead stemmen. Als Angehörige der unantastbaren Tanten werden sie das Lesen erlernen und somit ihren Blick erweitern.
Tante Lydia, die als ehemalige Richterin und Hauptgründerin, die Fäden in der Hand hält und sogar Kommandant Judd dirigieren kann, schreibt ein geheimes, niemand schonendes Tagebuch, in dem sie die Leser auch direkt anspricht. Agnes Jemima erzählt aus der Innenwelt von Gilead als Tochter des Kommandanten Kyle von ihrem Alltagsleben, dass sich durch den Tod der Mutter radikal ändern wird. Durchtränkt mit Lügen, Korruption, falschen Legenden offenbart die Gesellschaft in Gilead ihre Brüchigkeit. Nur die Abschottung hält das Gebilde aufrecht. Von außen kommt die sechzehnjährige Daisy, die Tochter von Melanie und Neil, die gemeinsam in Toronto leben. Als ihre Eltern, die sie in letzter Zeit misstrauisch betrachtet, bei einem Anschlag umkommen, erfährt sie, dass sie nicht das leibliche Kind war. Sie wurde als Kind aus Gilaed heraus entführt, hieß früher Nicole und lebt als sogenannte Legendenfigur in Gilead weiter. Daisys Eltern waren Mayday Spione, die Flüchtlinge aus Gilead unterstützten.
Nicht linear, immer wieder durch Erinnerungen an die bestialischen Anfangszeiten von Gilead unterbrochen, gezeichnet von Hinrichtungen und Folter, versteht der Leser nach und nach in welchem gesellschaftlichen System der Unterdrückung die Frauen leben und warum sie sich angepasst haben. Zwangsverheiratungen sind an der Tagesordnung, absoluter Gehorsam wird erwartet und perfide Übergriffe von Männern in Machtpositionen an der Tagesordnung. So giert ein Kommandant immer wieder nach jungen Frauen. Da es keine Scheidungen geben darf, aber genug Frauen zur Verfügung stehen, müssen die unerwünschten halt per Unfall sterben. Innerhalb der Frauengesellschaft gibt es ebenfalls eine scharfe Hierarchie zwischen Privilegierten und Dienerinnen.
Das Schicksal und die Lebenswege aller drei Frauen bewegen sich, auch unter Lydias Choreografie aufeinander zu. Wie die Frauen zueinanderstehen, was sie verbindet, sei, auch wenn es schon mehrmals ausposaunt wurde, hier nicht verraten.
Was diese Widerstandsgeschichte, die in sich viel komplizierter ist als man denkt, letztendlich dem Leser heute sagen soll, bleibt offen. Eine Antwort auf die aktuellen Fragen kann sie nicht geben, denn wie schnell ordnen sich Menschen, die in der Freiheit leben, den Doktrin der Machthaber unter, und stellen im Namen der Sicherheit ihre demokratischen Rechte hinten an.