Ivan Calbérac: Der Sommer mit Pauline, Aus dem Französischen von Anne Maya Schneider, Blumenbar, Aufbau Verlag, Berlin 2019, 232 Seiten, €20,00, 978-3-351-03776-5

„Ich musterte sie unauffällig. So viel Schönheit kann sich kein Mensch vorstellen. Obwohl sie nur einen Meter von mit entfernt stand, wollte ich ihr einen Liebesbrief schreiben. Ich schreibe wahnsinnig gern, ich kann Dinge besser in Worte fassen, wenn ich sie nicht ausspreche. Worte auf Papier, das ist sprechende Stille, der Anfang der Poesie.“

Émile ist sechzehn und geht in die elfte Klasse in Montargis, sein Vater arbeitet im 100 km entfernten Paris als Vertreter und seine Mutter ist Hausfrau. Als der Junge Pauline aus der zehnten Klasse zum ersten Mal sieht, ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie spielt nicht schlecht Tischtennis und drückt Émile den Ball in die Hand. Dieser Augenblick, so meint der verliebte Junge, wird sich ein Leben lang in sein Gedächtnis einprägen.
Alle seine Gedanken hält Émile in seinem Tagebuch fest und seine Aufzeichnungen sind zum einen naiv und rührend, zum anderen ganz unfreiwillig komisch, besonders dann wenn er über seine so stinknormale Familie schreibt. Émile philosophiert aber auch gern über das Leben, die Zeit in ca. dreißig Jahren und die Zitate seines Vater von Einstein bis Sartre. Da Émile nicht sonderlich groß ist, meint er, dies mit einem guten Verständnis für Frauen zu kompensieren. Aber das ist nicht einfach, zumal er seine Angebetete nicht mal zu sich nach Hause einladen kann, denn zur Zeit lebt er mit seiner Mutter im Wohnwagen, denn ein Haus soll erst gebaut werden.
Als Pauline ihn dann zum ersten Mal zu sich einlädt, wird ihm schon klar, dass sich zwischen ihnen gesellschaftlich wie sozial Abgründe auftun. Als Tochter eines Dirigenten lebt sie in einem entsprechend großen Haus. Allerdings scheint Paulines Mutter nicht sonderlich froh zu sein.

Detailreich erzählt Émile nun von einer Einladung Paulines an ihn nach Venedig. Sie wird mit ihrer Geige in einem Jugendorchester auftreten. Émile setzt nun alles daran, nach Venedig zu fahren, obwohl die Baugenehmigung für das Haus in Gefahr ist und die Familie finanzielle Probleme bekommen könnte. Erst sagt der Vater ihm die Reise zu, dann jedoch kippt alles und Émiles Eltern beschließen, dass sie ebenfalls ein paar Tage Entspannung benötigen und zu Ostern gemeinsam nach Venedig fahren könnten. Es gibt Momente, in denen Émile am liebsten bis zum Erdkern versinken würde und dann gesellt sich auch noch sein sechs Jahre älterer Bruder zum Familienausflug dazu. Émiles Kommentar:

„Das hatte gerade noch gefehlt. Wir sollten meine Oma ausgraben, dann kann die auch noch mit.“

In wunderbar komischen Szenen, in denen der wirklich liebenswerte Sechzehnjährige aus seiner Sicht die Erwachsenenwelt und seine eigenen Unsicherheiten betrachtet, beginnt nun die Reise in die Stadt der Lagunen. Émile erzählt von den exaltierten Ausbrüchen des Vaters in Autobahnraststätten, von der Liebe der Eltern und der galanten Untreue des Vaters, einer neuen Reisegefährtin Natacha und den traumatisierenden Begegnungen Émiles mit Paulines arroganter Familie. Dabei zerreißt es den Jungen fast, der seine Familie von Pauline verleugnet hat und sich ihr doch so nah fühlt.

„Das mag jetzt unlogisch erscheinen, aber obwohl meine Eltern sich megapeinlich aufführen, mag ich es, dass sie so lebendig sind. Ich meine, wirklich lebendig, viel lebendiger als diese 08/15 – Leute, die in einem Leben von der Stange festhängen – bei ihnen, da schwingt und vibriert etwas, da ist Bewegung drin und dafür liebe ich sie von ganzem Herzen.“

Leider führt der Titel des Romans etwas in die Irre, denn Émile verlebt keinen Sommer mit Pauline, es gibt ein paar Treffen in Montargis und dann die Ostertage im April in Venedig.