Carter Bays: Freunde von Freunden, Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung, Ullstein Verlag, Berlin 2023, 576 Seiten, €27,99, 9783550202179

„Weißt du was“, sagte Alice, „für jemanden, der nichts im Internet für echt hält, verbringst du ganz schön viel Zeit damit.“

„Na klar“, entgegnete Roxy. “Wer will denn schon in der Realität leben?“

Zitat aus „Freunde von Freunden“

2015: Sie sind um die dreißig Jahre alt, ungebunden und beruflich etabliert und mehr oder weniger erfolgreich oder gar engagiert. Sie leben in New York, in Manhattan oder Brooklyn. Ihr ganzes Leben dreht sich um nichts anderes als die sozialen Medien, Serien in Streamingdiensten und bei einigen vor allem um schnellen, unverbindlichen Sex. Und im Hintergrund wabert die unvergleichliche Stadt New York mit ihren kulinarischen Attraktionen und neuen Locations. Gut, da ist noch das Problem mit den rasenden Radfahrern im Central Park, das schon einige Opfer gefordert hat, denn jeder hat natürlich Kopfhörer im Ohr und wer interessiert sich schon für die Natur. Immerhin laufen alle mit ihren iPhones vor der Nase die Straßen entlang und jeder wundert sich, dass bisher nicht noch mehr Unfälle geschehen sind.

Und da ist Alice. Sie will unbedingt Ärztin werden, konnte sich aber bisher nicht entscheiden, ob das wirklich ihr Lebensziel ist. Ein Medizintest in 91 Tagen wäre der Anfang, zu dem sie sich nicht gleich durchdringen kann. Noch hält sie sich als Kindermädchen über Wasser und stellt fest, dass die neunjährige Tulip für sie immer noch die interessanteste Gesprächspartnerin ist. Alice‘ Jugendfreundin Meredith hat es zur Violinenvirtuosin gebracht, auch Alice hätte als gute Klavierspielerin Karriere machen können. Alice‘ Bruder Bill hat es mit seiner Startup-Firma ganz nach oben geschafft. Seine APP MeWantThat ist ein voller Erfolg. Sie zeigt den Nutzern deren angebliche Wünsche an, auf die sie selbst nie gekommen wären. Wie sinnvoll diese App sein soll, erschließt sich in der gesamten Handlung nicht und doch kann sich Bill nun finanziell alles leisten und dafür sorgt auch seine Ehefrau Pitterpat bei der Suche nach einer neuen Immobilie. Pitterpat, die an einer Magen-Darm-Erkrankung leidet, hätte allerdings lieber ein Kind, aber sie wird nicht schwanger. Bill jedenfalls hat sich von der Firma auszahlen lassen und sucht nun nach einer neuen Aufgabe und das wird für ihn der Buddhismus. Als er sich kurzerhand dazu entschließt, Mönch zu werden und seine Frau zu verlassen, bricht diese zusammen.

Durch einen Wohnungswechsel lernt Alice Roxana, kurz Roxy, kennen. Sie arbeitet mehr oder weniger motiviert für den nicht von allen geliebten Bürgermeister. Ein gestandener Mann mit Familie um die dreiundsiebzig, dem Roxy politisch kaum folgen kann. Auch Roxy tindert gern und lernt so Bob kennen, einen attraktiven Mann, der angeblich vierzig ist. Sein „Vampirimage“ verhilft ihm zu vielen oberflächlichen One-Night-Stands und so lernt er auch Alice und Roxy kennen. Alice allerdings sollte nur die Anstandsdame spielen, da Roxy diesen Blinddates nicht traut. Da Roxy allerdings beim Blick auf ihr Handy an einen Pfeiler gelaufen ist, muss Alice einspringen. Diese Begegnung bringt sie dazu, dass sie ihren Medizintest wirklich in Angriff nimmt. Was ist Bob für ein Mensch? Ist er oberflächlich, aggressiv und manipulativ, wie er im Netz dargestellt wird. Klar ist, er ist ein notorischer Lügner. Doch was ist bei ihm schief gelaufen?

Realität und die Wunderwelt des Internets bestimmen das Leben der Freunde, die ernst genommen, eigentlich keine sind. Vielstimmig komponiert folgen die Lesenden den einzelnen Figuren bei ihrem Scheitern, dass zum Teil doch Konsequenzen hat. Immerhin beginnt Roxy mit dem alten Bürgermeister, der ihr angeblich ein Bild von seinem Penis gesendet hat, einen sexistisch angehauchten Smalltalk. Nie reden Leute am Telefon, es werden immer nur Nachrichten hin- und hergeschickt. Als jemand ihr dann ihr Handy genau vor ihrer Haustür aus der Hand reißt, beginnt eine widerliche Schlammschlacht in der Presse.

Witzig ist, dass der amerikanische Autor Carter Bays seine Lesenden über vieles informiert, was in der Zukunft mit einzelnen Haupt- aber auch Nebenfiguren geschehen wird und er beginnt Ratschläge zu geben, z.B. zuerst „Anna Karenina“ von Lew Tolstoi zu lesen, wegen der Spoiler, und dann zu seinem Buch zurückzukehren. Alice wird sich mit ihrem neuen Freund Grover, der sich ethischen Prinzipien verpflichtet fühlt und gern jedem seine Wahrheit ins Gesicht sagt, in die Bakery zurückziehen und für ihren Test lernen.

Zu gern geht Carter Bays in Details, um seine Figuren, die nicht unbedingt liebenswert sind, in ihrem Handeln zu beschreiben. Das führt stellenweise zu Längen und Ermüdungserscheinungen.

Doch insgesamt vermittelt die Handlung ein gesellschaftliches Bild von einer amerikanischen Großstadt mit ihren umtriebigen Bewohnern, die jedoch mehr in der Wirklichkeit als im virtuellen Netz leben sollten, denn ihr Leben ist endlich, das Internet existiert möglicherweise länger.