Louise Penny: Bei Sonnenaufgang – Der siebte Fall für Gamache, Aus dem kanadischen Englisch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck, Kampa Verlag, Zürich 2021, 472 Seiten, €17,90, 978-3-311-12028-5

„Es wäre naheliegend, den Chief Inspector für einen Jäger zu halten. Er spürte Mörder auf. Aber Jean-Guy Beauvoir wusste, dass er kein Jäger war. Der Chief Inspector war von Natur aus ein Entdecker. Am glücklichsten war er, wenn er Grenzen anderer austestete, deren Innenleben erkundete. In Bereiche vordrang, die nicht einmal der Betreffende selbst kannte, nie erforscht hatte. Vielleicht weil er zu viel Angst hatte. Dorthin ging Gamache. Bis ans Ende der bekannten Welt und darüber hinaus.“

Eine Einzelausstellung im Museé d’art contemporain in Montréal ist für einen Künstler der Beginn einer großen Karriere oder das Ende aller Hoffnungen. Für die Malerin Clara Morrow aus dem Dörfchen Three Pines, dass man sicher nicht mit Google Maps oder auf Straßenkarten finden kann, ist dieser Traum in Erfüllung gegangen. Clara hat sich in ihrer Kunst auf Porträts spezialisiert, insbesondere von ihren weiblichen Nachbarinnen. Sagen die einen sie zeichnet „Gemälde von geflügelten Kohlköpfen“, so denken die anderen, es seien Meisterwerke.
Es herrscht bekanntlich ein Hauen und Stechen auf dem Kunstmarkt. Alle werden sich in der Ausstellung treffen, diejenigen, die Clara wohlgesonnen sind und alle Neider.
Hatte nicht der arrogante Galerist Denis Fortin sie erst hofiert, um dann sie und ihre Kunst vor allen zu demütigen. Doch jetzt dreht sich das Blatt für die aus sich kreative Clara, die mit ihren Ende fünfzig möglicherweise den Durchbruch schafft. Ihr Mann Peter, ein talentierter, aber zu gefälliger Künstler, der gern im naturalistischen Stil malt und somit auch Werke verkauft, weiß in seinem Innersten, dass er sich für seine Frau freuen sollte. Völlig unvoreingenommen besucht auch der Leiter der Mordkommission, Armand Gamache, mit seiner Frau Reine-Marie die Ausstellung. Clara kann den Abend und die nachfolgende Grillparty kaum genießen. Sie zittert, hat sich zwar teuer angezogen, fühlt sich aber absolut unwohl. Als sie sich am kommenden Morgen einen ruhigen Moment in ihrem Garten gönnen will, entdeckt sie eine Leiche in ihrem Blumenbeet. Lillian Dyson, einst angesehene Kunstkritikerin, wurde durch einen Genickbruch brutal getötet. Clara kennt sie von früher. Sie war ihre beste Freundin seit Kindertagen bis es zum Bruch in beider Kunststudium kam. Als starke, immer tonangebende Persönlichkeit konnte Lillian bösartige wie gemeine Verrisse schreiben und sensible Künstlerkarrieren vernichten. Sie war sozusagen ein „emotionaler Vampir“. In gewisser Weise war der erste Gedanke an den „Zauberer von Oz“ als Jean-Guy Beauvoir die Tote sah, gar nicht so falsch. Rotes auffallendes Kleid, rote Schuhe:

„Ding, dong.
Die Hexe ist tot.“

Clara und Lillian hatten sich über Jahre nicht mehr gesehen. Es hieß, sie sei nach New York gegangen, da die Kunstszene ihr in Montréal zu klein wurde. Der Mord an Lillian verdirbt natürlich Claras größten Tag.
Gamache beginnt nun im Dorf mit seinen Befragungen. Immerhin sind zwei interessierte, sich nicht wohlgesonnene Kunsthändler und ein auf Clara neidisches Künstlerehepaar noch vor Ort. Immer tiefer dringt der Ermittler nun in die Vergangenheit der einst so charismatischen Lillian ein. Da eine Münze neben der Leiche gefunden wurde, ist klar, dass entweder sie oder ihr Mörder zu den Anonymen Alkoholikern zählt.
Jean-Guy Beauvoir und Gamache besuchen die Sitzung der AA. Sie treffen dort sogar auf einen ortsbekannten Richter und Suzanne, eine Freundin von Lillian. Suzanne arbeitet heute als Kellnerin, war aber auch einst Künstlerin, der Lillian die Karriere vermiest hat.
Suzanne behauptet nun, dass Lillian sich in ihrer Lebensphase bei vielen Leuten entschuldigen wollte, auch bei Clara. Doch warum bringt dann jemand eine reuige Person um?
Clara jedenfalls sieht plötzlich sehr klar, dass sogar ihr Mann Peter sich eher an der schlechten Rezension zu ihrer Ausstellung berauscht, als dass er sich für sie und all die bedeutenden Anrufer, die nun nach Clara fragen, freut. Er wird am Ende das Dorf mit einem Koffer verlassen.

Im üblichen Showdown entlarvt Gamache den Mörder, der eine weit in die Vergangenheit liegende Kränkung einfach nicht verwinden konnte.

Wie immer öffnet Louise Penny ihren Minikosmos Dorfgemeinschaft mit all den skurrilen Typen, um die große Welt und ihre Probleme hineinzulassen. Ihr Gamache ist ein belesener und vor allem ausgeglichener Ermittler, der immer einen Blick für seine Mitarbeiter übrig hat und erkennt, dass z.B. sein Stellvertreter Beauvoir unter seiner Scheidung leidet. Dabei hat Beauvoir längst ein Auge auf Gamaches Tochter Annie geworfen, aber sie ist verheiratet.
Es sind die kleinen normalen Geschichte hinter dem Fall, den diesen beim Lesen zwar nicht vergessen lässt, aber den Leser, weil vielleicht doch nahe an eigenen Problemen, gut unterhalten.