Liane Moriarty: Alle außer Alice, Aus dem Englischen von Sylvia Strasser, Diana Verlag, 543 Seiten, €10,99, 978-3-453-36121-8

„Der Geschmack des Senfs auf einem Schinkensandwich erinnerte sie plötzlich wieder an etwas.
Es machte sie rasend, diese schwach anklingenden Erinnerungen nicht zu fassen zu bekommen. Es war, als hörte man im Schlaf eine Stechmücke sirren, und sobald man das Licht anknipste, um sie zu fangen, war sie verschwunden; kaum hatte man sich aber wieder hingelegt und die Augen zugemacht, ging es von vorne los:sssss…“

2008, Alice Love, Anfang vierzig, Vollzeitmutter von drei Kindern, momentan in Scheidung von Nick lebend, stürzt unglücklich im Step – Aerobic – Kurs und landet im Krankenhaus. Als Alice nach ihrer Gehirnerschütterung wieder bei sich ist, glaubt sie, dass sie im Jahr 1998 lebt und gerade schwanger mit ihrem ersten Kind ist. Ihre Ehe ist glücklich, Nick und sie haben in einem Vorort ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft und bald sind sie eine typische amerikanische Kleinfamilie.
Alice erinnert sich durch die Amnesie nicht an ihre Kinder, an keinen Augenblick in den vergangenen zehn Jahren. Ihre Sorgenfalten deuten allerdings auf Stress hin. Ihr Körper ist eindeutig schlanker und durchtrainierter als 1998 und wenn jemand das Wort „googeln“ benutzt, dann hat sie keine Ahnung, was gemeint ist.

Sie weiß nicht, dass sie einen neuen Freund hat, ausgerechnet den Schulleiter der Schule ihrer Kinder und sie ahnt nicht, dass sie sich mit ihrer Schwester Elisabeth nicht mehr so gut versteht wie früher. Auch Nicks aggressive Art und Weise mit ihr umzugehen, befremdet sie. Als der Name Gina öfter fällt, glaubt Alice, dass Nick eine Affäre mit ihr hatte und dadurch die Ehe zerbrochen ist.
Aber weit gefehlt, Alice und Gina waren engste Freundinnen, wobei die doch etwas herrschsüchtige Gina durch einen Unfall ums Leben gekommen ist.
Was sich nun in den zehn vergangenen Jahren abgespielt hat, das erfährt die Leserin in den Tagebuchaufzeichnungen Elisabeths, die mit ihrem eigenen Schicksal, ihrer Kinderlosigkeit hadert. Auch die Urgroßmutter von Alice äußert sich lustigerweise in den sozialen Medien über das Schicksal ihrer Urenkelin und deren Familie. Ab und zu, die Ärzte hatten es vorausgesagt, dringen Erinnerungsblitze ins Bewusstsein der Patientin.

Liane Moriarty lässt sich viel Zeit, um alle Konflikte in der Ehe der Loves zum Vorschein zu bringen. Nick hat sich im Laufe der Zeit immer mehr in die Arbeit gestürzt und der Familie ein sorgenfreies Leben mit Pool ermöglicht. Alice sah ihre Aufgabe darin, sich und ihre Umwelt zu optimieren, so wie es ihre Freundin Gina ihr vorlebte. Sie war die perfekte Mutter, mit hohen Ansprüchen an die Kinder, aber auch Vorwürfen an den Ehemann, der nie Zeit hatte.
Irgendwann konnten Alice und Nick nicht mehr miteinander reden und gingen langsam zum Rosenkrieg über.
Alice braucht nun eine Weile, um ihre Kinder, aber auch Nick wieder neu kennenzulernen und die Alice, die sie offenbar geworden ist, kritisch zu betrachten.

Die Grundidee dieses Romans hat extrem viel Potential, denn wem ist es schon gegeben, sein älteres Selbst einfach mal kritisch zu beleuchten. Sicher kann man nicht von Null anfangen, aber man kann aus dieser Position der „Kranken“ einfach noch mal entspannt und in Alice Fall auch noch finanziell sorgenfrei, naiv und ohne Vorurteile auf Vertrautes wie anscheinend Neues zugehen.

Leider hat die mittlerweile, der Roman stammt aus dem Jahr 2009, sehr erfolgreiche Autorin in ihrer ausufernden Handlung die Komplexität ihrer Figuren nur an der Oberfläche angekratzt und sich in vielen Nebenschauplätzen verzettelt.

Warum sie am Ende nach der Gesundung von Alice alle Konflikte, die zur Trennung von Alice und Nick führten, noch einmal für ihre Lesenden erklären muss, zeugt davon, dass sie ihrer Zielgruppe nicht viel zutraut.