Silvana Gandolfi: In der Schusslinie, Aus dem Italienischen von Ruth Karzel, Carlsen Verlag, Hamburg 2012, 256 Seiten, €14,90, 978-3-551-58272-0

„Sie hatten nicht die Kraft, die Mafiosi zu entlarven, mit denen sie zu tun hatten. Sie glaubten, unter ihrem Schutz zu stehen, und dann wurden sie gerade von denen umgebracht.“

Santino und seine Familie leben auf Sizilien. Der Vater schlägt sich mit kleinen Diebereien durchs Leben, hinten und vorne fehlt das Geld zum täglichen Leben. Immer wieder hat Santinos Vater Kontakt zum Sohn von Don Ciccio, einem bekannten untergetauchten Mafiaboss. Immer wenn sich Santinos Vater geschäftlich in der Geisterstadt Poggioreale Vecchia, einem Ort, der von einem Erdbeben zerstört wurde, trifft, nimmt er seinen sechsjährigen Sohn mit. Eine verhängnisvolle Entscheidung.

Szenenwechsel: Der 12-jährige Lucio lebt in Livorno und trägt die gesamte Last seiner kleinen Familie auf seinen Schultern. Der Vater arbeitet angeblich in Venezuela, die Mutter fühlt sich krank, ja verflucht, verlässt die Wohnung nicht mehr und bürdet Lucio die Männer- und Babysitterrolle für seine kleine Schwester auf.

Wieder zurück zu Santino: Als seine Erstkommunion ansteht, geraten Vater und Großvater mit ihren Betrügereien zwischen zwei rivalisierende kriminelle Clans und müssen bitter mit dem Leben bezahlen. Santino ist bei diesem Treffen in der anwesend und steigt im entscheidenden Moment aus dem Auto, um ganz kindlich eine herumstreunende Ziege zu streicheln. Die Männer verfolgen ihn schießen, können ihn aber nicht töten, da sich der Junge in Poggioreale Vecchia in einem einsturzgefährdeten Haus verschanzt. Wie durch ein Wunder wird der schwer verletzte Santino gerettet und soll nun unter Polizeischutz stehend aussagen, wer die Mörder seiner Familie sind. Tief im Bewusstsein der Menschen in Sizilien scheint eingebrannt, dass man mit der Polizei nicht zusammenarbeitet. Auch Santinos Onkel Zi‘ Turi schärft dies seinem Neffen in einem unbeobachteten Moment ein. Santino will kein Denunziant sein. Doch was ist nun richtig, die Mörder zu decken oder sie dem sympathischen, jungen Untersuchungsrichter Francesco auszuliefern und sich selbst in Gefahr zu bringen?

Spannend liest sich diese fiktive Geschichte aus dem Blickwinkel eines Jungen, dessen Kindheit viel zu schnell zu Ende geht und dessen Erlebnisse ihn viel zu früh mit Verlust und Unsicherheit konfrontieren. Bedrückend sind die realen Momenten, denn nach einer Weile wird dem Leser klar, dass Santino und Lucio zeitversetzt eine Person sind. Aus der Ich-Perspektive erzählt Lucio die gegenwärtige Handlung und Santinos traumatische Erlebnisse werden aus der Erinnerung und wissenden Draufsicht berichtet.
Wie fast nebenbei fließen in die Handlung viele Informationen über mafiöse, gesellschaftliche Strukturen und das Leben auf Sizilien ein, das zum Teil auch vom rückständigen Glauben an magara, sogenannte Magierinnen, bestimmt ist.

Ein wichtiges Jugendbuch über die Gewissheit, auch ein zweites Leben kann glücklich sein!