T. A. Wegberg: Klassenziel, rotfuchs, rororo, TB, Reinbek 2012, 286 Seiten, €8,99, 978-3-499-21624-4
„ An meinem Leben ist überhaupt nichts mehr normal, in mir drin herrscht ein Riesenchaos, ich habe praktisch alles verloren, an dem ich mich vorher so lässig festhalten konnte, und jetzt weiß ich, dass man seine Beliebtheit mit einem Schlag verlieren kann.“
Die Brüder Dominik und Benjamin, Nick und Jamie, van Arcen leben in einem kleinen Ort mit ihren Eltern. Sie teilen sich, obwohl im Haus Platz wäre, ein Zimmer, das war schon immer so. Und doch sind beide sehr unterschiedlich. Nick ist eher der introvertierte, wortkarge, grummelige, leistungsschwache Typ, der ohne Freunde. Jamie dagegen ist der goldlockige, leichtlebige Sonnyboy in der Familie, immer guter Laune, mit Freunden im Schlepptau und vielen Talenten gesegnet.
Wenn Jamie zu seiner Bandprobe aufbricht, dann sitzt Nick vorm PC und schießt auf irgendwelche virtuellen Figuren. Und er hockt noch vorm Computer, wenn Jamie zurückkehrt. Jamie macht sich Gedanken über den älteren Bruder, versucht ihn aus seiner Einkapselung herauszuholen, ihn einzubeziehen. Umsonst. Nie hat Nick einen Freund, mit dem er abhängt oder spielt. Doch dann taucht Marek auf. Aber auch von ihm bekommt Jamie nicht viel mit. Als Marek wegzieht, erwähnt Nick es in einem Nebensatz. Jamie kann es nicht fassen, dass Nick keine Gefühle zeigen kann. Innerhalb der Familie herrschen schon lang Disharmonien. Die Jungen bemerken, dass der Vater ab und zu nicht zu Hause schläft. Er wird die Familie verlassen und nach Berlin ziehen.
Es gibt ein Leben nach dem Unfassbaren.
T.A.Wegberg erzählt aus Jamies Sicht und immer im Wechsel auf zwei Zeitebenen. Zum einen beginnt die Geschichte in der Gegenwart mit Jamies schwierigem Neuanfang in Berlin mitten im 9. Schuljahr. Der Leser ahnt oder weiß, wenn er den Klappentext gelesen hat, was geschehen ist. Der zweite Erzählstrang spielt in der Vergangenheit. Jamie erinnert sich an seine Zeit mit dem Bruder, den Freunden, den Bandmitgliedern und was innerhalb der Familie passierte. Schritt für Schritt lebt sich Jamie in Berlin ein, Schritt für Schritt führt er den Leser zu dem letzten Schultag, zu Nicks Amoklauf. 17 Menschen wird er erschießen, dabei sind alle Freunde und die Freundin von Jamie.
Nick erzählt Jamie, bevor er ihn weit von der Schule entfernt am Vorabend des Amoklaufes in ein Dixie-Klo einsperrt, dass er „Spuren hinterlassen“ will. Jamie kapiert nichts, er denkt, Nick will sich in seiner Verzweiflung, auch über das nicht erreichte Klassenziel, umbringen.
Die grausame Tat und die Verzweiflung über den Tod so vieler Menschen wirft den 17-jährigen Jamie völlig aus der Bahn. Nur langsam findet er wieder zu sich selbst zurück. Immer hat er in der Familie, in der kaum über wichtige Dinge gesprochen wurde, auch nicht über die Tatsache, dass die Mutter einen neuen Freund hat und der Vater allein in Berlin lebt, mit seiner fröhlichen Art für gute Stimmung und die Vermittlung zwischen Eltern und verstocktem älteren Sohn gesorgt.
Jetzt dominieren die Zweifel, die Schuldgefühle und die Trauer. Jamie kann nicht mehr der Sonnenschein sein, der es allen recht macht.
Der Berliner Autor T.A.Wegberg hat einen nah an der Realität entlang geschriebenen Jugendroman vorgelegt. Durch Jamies Perspektive, erzählt in einer lebendigen frischen Sprache ohne Jugendjargon, ist der Leser nah an seinen inneren Konflikten, die die Veränderungen nach dem Amoklauf spiegeln. Wiederum auf sich selbst gestellt, mit der Angst, man könne ihn an der Schule erkennen, kämpft sich der Junge allein durch den Alltag und seine quälenden Erinnerungen.
„Immerhin hatte Nick meine besten Freunde umgebracht. Aber irgendwie schaffte ich es nie, diese beiden Tatsachen in einen Zusammenhang zu bringen: dass ich meinen Bruder verloren hatte und dass jemand meine Freunde ermordet hatte.“
Nie wird die Geschichte sentimental oder auf irgendeine Weise psychologisierend gedeutet. Der Autor lässt dem Leser genug Raum für eigene Gedanken und er berührt, denn manchmal steht zwischen den Zeilen mehr als Jamie sagen kann.
Schreibe einen Kommentar