Liza Marklund: Der Polarkreis – Band 1, Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt, Atrium Verlag, Zürich 2025, 400 Seiten, €24,00, 978-3-85535-212-8

„Die siebenundfünfzigjährige Carina schloss die Augen, die Erinnerungen stürzten wie ein Wasserfall auf sie ein. An diesen Abend, in diesem Kreis, hatten sie sich gestritten. Susanne verglich Colleen McCullough mit Vladimir Nabokov, zugunsten von McCullough, und sie war ausgerastet. Sofia, sonst immer so still und einsilbig, hatte sie angeschrien. Agneta hatte geweint. Birgitta hatte wie immer auf ihrem verdammt hohen Ross gesessen und die beiden gemustert, war dann aufgestanden und vor allen anderen abgehauen. Fotze.“

Es ist ein Schock und ein grausiger Fund, der im Hohlraum und Fundament einer alten Brücke am dunklen, schwedischen Polarkreis in Stenträsk, entdeckt wird. Am 20. Dezember 2019 glauben alle, dass sie die vor vierzig Jahren verschwundene Sofia Hellsten, einzige Tochter des ehemaligen Kommunalrates Hilding Hellsten gefunden haben. Laut ihrer Kleidung und dem noch brauchbaren Material rund um die Leiche könnte sie es sein. Allerdings fehlt der Leiche der Kopf, der unauffindbar ist.
Liza Marklund ist literarisch an ihren Heimatort hoch im Norden Schwedens angekommen. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern im Wechsel zwischen der Gegenwart und den Geschehnissen vor vierzig Jahren. Immer aus der personalen Perspektive erfahren die Lesenden vieles über den Polarkreis Buchclub, dem Sofia und vier ihrer Freundinnen, Susanne, Brigitta, Agneta und Carina angehörten. Nach dem Verschwinden Sofias hatten die damals Siebzehnjährigen kaum noch Kontakt. Im Buchclub stellten sie sich gegenseitig pro Woche ein Buch vor. Neben den jungen Frauen spielte auch Wiking Stormberg, der attraktive Sohn des damaligen Polizeichefs Stormberg eine wichtige Rolle, denn alle waren verliebt in ihn. Heute ist er der Polizeichef und mit dem Fall Sofia Hellsten betraut.
Aus der Sicht der jungen Frauen, die jeweils ein literarisches Werk vorstellen, erfahren die Lesenden nun mehr über den privaten Hintergrund der Figuren, aber auch über den besonderen Ort, der als Raketenstandpunkt und Experimentierort bekannt war. Aus allen möglichen Ländern wurde hier Militär stationiert und die Angehörigen hatten auch Kontakt zur Bevölkerung.
Kurz vor Weihnachten ist niemand sehr erfreut, dass nun polizeilich ermittelt wird.
Carina hat Håkan geheiratet, den jüngeren Bruder von Susanne. Als Büroangestellte bei der Polizei und bekannte Politikerin für die ultrarechten Schwedendemokraten im Kommunalrat obliegt es ihr, nach Verwandten von Sofia für einen DNA – Abgleich zu suchen. Aber Carina hat auch ein Geheimnis, denn nicht umsonst löst sie eine Seite aus der damaligen Akte von Sofia. Susanne war einst in Carina verknallt, wovon Sofia wusste und weitererzählen wollte, zu einer Zeit, in der lesbische Beziehungen noch ein Eklat waren. Heute arbeitet Susanne als freiberufliche Journalistin in Stockholm. Sie wittert eine Story und möchte mit Leuten von damals Interviews führen und einen Podcast vor Ort aufnehmen.
Interessant ist, dass jedes Kapitel einer der jungen Frauen, gewidmet ist, die die Zeit vor vierzig Jahren rekapitulieren und ihr Buch kurz vor dem Verschwinden Sofias vorstellen. Mal ist es hohe Literatur, mal einfach nur trivial. Ihre Diskussionen über die Bücher gehen nie in die Tiefe und sagen aber auch viel über die einzelne Person aus. Denn die sogenannten Freundinnen hatte sich im Laufe ihrer Schulzeit kaum eng angefreundet, zwischen ihnen herrschte ein starkes Konkurrenzdenken, Neid, Argwohn, Missachtung und vor allem auch im Wohlfahrtsstadt Schweden soziale wie gesellschaftliche Unterschiede. So kam Agneta, die stotterte, aus einfachen Verhältnissen und sie musste sich um ihre depressive, alleinerziehende Mutter kümmern. Sofia hingegen lebte in einer Villa. Doch war sie nicht das brave Mädchen, für das sie alle hielten? Hat sie nicht mit Drogen von den Amis gehandelt? Sexuell aktiv erscheinen alle Frauenfiguren, doch nur eine wird schwanger werden.

Ohne überbordendes Personal konzentriert sich Liza Marklund auf das Leben der jungen Frauen und ihre Entwicklung bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Handlung. Was ist aus ihnen geworden? Ist Carina nun eine Rassistin, so hat sich Brigitta zu einer radikalen Feministin, die sich nach dem Studium der Geschlechterwissenschaften profiliert hat, entwickelt. Einst hatte Birgitta mit Wiking eine Beziehung, aus der sie geflohen ist, da der junge Wiking zu aggressivem Kontrollverhalten tendierte und zu Gewalt.
Sind so einige Fährten ausgelegt, überrascht Liza Marklund doch mit einem grausigen Ende, das als Cliffhanger geschickt auf den zweiten Band neugierig macht.