Sana Krasikov: Die Heimkehrer, Deutsch von Silvia Morawetz, Luchterhand Literaturverlag, München 2018, 799 Seiten, €26,00, 978-3-630-87308-4
„Ich trauerte jetzt, weil ich sie, als sie lebte, nicht verstanden hatte. Bis zum Schluss hatte sie mich daran gehindert, sie zu verstehen, hatte es mir mit ihrem Schweigen, mit Verdrängung und Auslassungen verwehrt. Nicht ihre Vergangenheit in den Lagern per se. Wohlweislich habe ich sie über ihre Reise durch den Bauch der Hölle nicht ausgefragt, habe ihr Schweigen über das Thema respektiert.“
Was Florences Sohn Julian nicht ertragen konnte, war, dass die Mutter ihr Leben in der Sowjetunion und deren politisches System auch nach ihrer Rückkehr in die USA nicht verurteilte. Immerhin wurde sein Vater während der sogenannten Säuberungen getötet, die jüdische Mutter saß sieben Jahre in Gefängnislagern und Julian lebte gedemütigt von seinem sechsten bis dreizehnten Lebensjahr in einem Kinderheim. Immer wieder behauptete die Mutter, dass sich der Staat doch auch immer um seine Kinder gekümmert hätte. Julian hat genug grausame Erinnerungen daran, wie sich das diktatorische System wirklich gekümmert hat. Zum Glück verlebte er nach einem Wechsel auch gute Jahre in einem Heim.
Der voluminöse Roman beginnt mit der Szene, in der Florence im Jahr 1956 ihrem Sohn auf dem Bahnhof in Saratow nach der Lagerhaft begegnet.
Im zeitlichen Wechsel zwischen 1933 und 2008 erzählen Florence, aber auch Julian und sein Sohn Lenny von ihrem Leben. In den 1930er Jahren verlässt die eigensinnige Florence ihr amerikanisches Zuhause. Sie hatte sich in einen Russen verliebt, den sie während ihrer Arbeit bei der sowjetischen Handelsvertretung kennengelernt hatte. Sie folgt ihm nach Magnitogorsk, trotz der vehementen Auseinandersetzungen mit der eigenen Familie.
Florence ist keine Kommunistin, sie ist auch nie in die kommunistische Partei eingetreten und den Personenkult um Stalin konnte sie nicht gutheißen. Sie wollte ein Abenteuer erleben, eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt leben. Und so staunt sie nicht schlecht, als sie die Läden in Moskau entdeckt, in denen nur privilegierte Ausländer einkaufen dürfen.
Russische Frauen sehen Florences Sachen und kaufen sie ihr zu hohen Preisen ab. Nach und nach wird auch Florence klar, dass sie mit ihrem bisschen Russisch zwar irgendwie durchkommt, aber in einer Mangelwirtschaft leben muss, wo es an allem fehlt, ordentlicher Wohnraum, Lebensmittel, auch Arbeit. Als Florence ihren Traummann Sergej wiedersieht, rät dieser ihr, so schnell wie möglich das Land wieder zu verlassen. Doch mittlerweile ist es schon zu spät. Die Behörden nehmen ihr den Pass und sie hat inzwischen auch den jüdischen Amerikaner Leon Brink kennengelernt und sich in ihn verliebt.
Zurück in der nahen Gegenwart reist Julian als Angestellter eines Öl- und Gasunternehmens nach Russland. Vor Jahren ist seine Mutter gestorben. Sie ist mit ihm, als er mit neununddreißig Jahren die Sowjetunion auch aus beruflichen Gründen verlassen hat, nach Brooklyn zurückgezogen.
Julian beschäftigt sich mit der Vergangenheit der Mutter und hofft nach Jelzins Öffnung der Archive des KGB auf die Herausgabe ihrer Unterlagen. Er ahnt nicht, dass sie, ohne eine Wahl gehabt zu haben, der Geheimpolizei zuarbeiten musste. Natürlich will er wissen, warum die Mutter ins Lager musste. Was war geschehen? Außerdem möchte Julian seinen Sohn Lenny wieder nach Hause holen. Lenny war immer der Liebling von Florence. Doch nun hat er seinen Job in Moskau durch eine Firmenzusammenführung verloren. Das schnelle Geld ist für Lenny weit entfernt, die Familie möchte, dass er endlich sein Studium beendet.
Florence wechselt die Arbeitsstellen, zieht mit Leon Brink zusammen, arbeitet mit ihm beim Jüdischen Komitee, übersetzt Schriften. Allerdings vermag sie sich nicht die sowjetische Fähigkeit anzueignen, das Leben so zu sehen, wie es wird. Das Gefühl der Angst, das Misstrauen gegenüber jedem in der Wohnung, in der Arbeit bestimmt ihr Leben. Niemand ist sicher, die Spitzel sind überall und das weiß Florence selbst ganz genau. Die westlichen Botschaften haben ihren Mitbürgern in der Sowjetunion den Rücken gekehrt. Zwar plant die Familie Brink, auch als Julian auf der Welt ist, die Flucht, können sie aber nicht umsetzen, da sie verhaftet werden.
Als Landesverräter wurde Leon Brink wahrscheinlich ohne Prozess erschossen, Florence konnte ihre Strafe, angeklagt wegen Spionagetätigkeit, beeinflussen, da sie mittlerweile die Mentalität der Russen gut kennt. Hatte sie letztendlich doch nur ein paar westliche Zeitungen gelesen.
Julian versteht langsam, dass seine Mutter sich nie negativ über ihre Vergangenheit geäußert hat, geschwiegen hat, da sie selbst zur Schuldigen wurde.
Vielleicht haben Diktaturen, auch die des Proletariats, eines gemein, es geht immer um eine vorgegebene Meinung, wird dieser nicht gefolgt, gibt es keine Alternative. Gaukelte der Sozialismus einst den Menschen vor, die bessere Gesellschaft zu sein, so erfüllte sie doch nie deren Ansprüche, Träume und Hoffnungen. Wenn in einer Gesellschaft bereits Kinder zu Denunziationen angestiftet werden, stimmt vieles nicht. In der Sowjetunion kam zur Unberechenbarkeit der Herrschenden, die Korruption und vor allem die wirklich elenden Lebensverhältnisse. Mag sich im heutigen Russland eines geändert haben, die Spanne zwischen Arm und Reich klafft weit.
Ohne ihre Figuren und deren Handeln zu bewerten, erzählt Sana Krasikov, im Jahr 1979 in der Ukraine geboren und längst New Yorkerin, lebendig, angereichert mit Hintergrundmaterial und doch szenisch genau vom Schicksal vieler Menschen und ihrem Leben in der Sowjetunion und im Russland unserer Tage. Durch den zeitlichen, nicht chronologischen Ablauf gewinnt die Geschichte an Dynamik. Wie grausam gerade im 20. Jahrhundert angeblich fortschrittliche Länder mit ihren Bürgern umgegangen sind, ist kaum zu ertragen. Florence wird ihren Frieden gemacht haben, der Preis jedoch war hoch:„Sie gelangte zu der Erkenntnis, dass das Geheimnis des Lebens darin bestand, zu vergessen.“
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