Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Dumont Buchverlag, Köln 2016, 348 Seiten, €23,00 , 978-3-8321-9830-5

„L. konnte besser als jede andere mein Stimmung, meine Sorgen erraten, sie schien eine Vorherkenntnis der Ereignisse zu haben, die mich betrafen. Sie hatte auf mich einen Einfluss, den keine meiner Freundinnen je gehabt hatte.“

Die Ich-Erzählerin dieses Romans scheint die Autorin selbst zu sein. Doch endet L., die Freundin, von der die Ich-Erzählerin akribisch genau in diesem Roman berichtet, ihre Manuskripte als Ghostwriterin für Politiker, Schlagersternchen oder Schauspielerinnen mit „ Ende* “, ein persönliches Zeichen der wahren Autorin. Auch dieser Roman endet mit „ Ende* “. Wer hat nun diesen Roman geschrieben, die ominöse L. oder Delphine de Vigan? Kann es sein, dass jemand sein Leben aus Episoden aus Romanen selbst erdichtet und diese dann präzise genau weitererzählt? Die Autorin hat L. jedes Wort geglaubt, weil sie es wollte und ihr vertraut hatte.

Alles beginnt mit dieser entscheidenden Begegnung nach der Buchmesse. Die Autorin hat einen sehr persönlichen Roman über ihre Mutter veröffentlicht. Er heißt „Das Lächeln meiner Mutter“ ( Rezension ebenfalls auf dieser Homepage ). L. und sie kommen ins Gespräch, sie sind sich sympathisch. Dabei fällt auf, dass die Autorin L. als äußerst perfekte Frau mit starken Ansichten wahrnimmt und sich selbst in den Schatten stellt. War sie doch als Kind recht schüchtern und ist auch heute nicht besonders erfreut, wenn sie vor Publikum reden soll. Alles an L. fasziniert die Autorin und nach jeder Begegnung, scheint sie ein bisschen zu schrumpfen. Sie verliert sich selbst in dieser immer intensiver werdenden Beziehung. Als die Sprache darauf kommt, was die Autorin demnächst als neues Buch beginnen wird, entbrennt eine heftige Auseinandersetzung. L. glaubt, gute Literatur kann nur diejenige sein, die aus dem wahren Leben schöpft. Allerdings erhält die Autorin von einem anonymen Schreiber hasserfüllte Briefe, die mit der Schreibmaschine geschrieben wurden. Er kritisiert sie, da sie persönliche Themen öffentlich gemacht hat. Er beleidigt sie und unterstellt ihr, sie sei mit einem berühmten Literaturkritiker nur zusammen, weil sie sich davon Vorteile verschaffe. Auch auf ihrer Facebook-Seite tummeln sich fiese Anschuldigungen.

In der Zeit als die Autorin L. kennenlernt, geschehen in ihrem Leben viele Umbrüche. Ihre Zwillinge machen Abitur und verlassen das Nest. Ihr Freund Francois ist ständig unterwegs und wird L. nie begegnen, zumal diese auch in Andeutungen schlecht über die Beziehung zwischen der Autorin und Francois spricht. L. scheint wie ein Seismograph auf alle Stimmungen der Autorin zu reagieren und vermag auch das zu sagen, was der andere hören will. Sie allein weiß um die Geheimnisse ihrer besten Freundin, nachdem sie alle anderen Freunde ausgebootet hat.

Sind es die inneren Zweifel, die die Autorin nicht aussprechen kann und einer anderen Person in den Mund legen muss? Ist es ein Spiel mit Identitäten, die man annehmen kann und wieder ablegen? Steckt hinter allem ein Gedankenspiel über den Prozess des Schreibens und seine Qualen? Mag sein, denn die Autorin kann nicht mehr schreiben. Wenn sie sich dem Computer nähert oder einen Stift in die Hand nimmt, fangen ihre Hände an zu zittern. Nur L. kennt dieses schreckliche Geheimnis der Autorin, dass sie vor allen kaschieren muss, vor der Familie und ihrer Lektorin.

Hier springt L. ein. Sie gewinnt die Oberhoheit über das Leben der Autorin. Schreibt Mails für sie, arbeitet an einem Vorwort in ihrem Namen und tritt sogar in einer Diskussion als sie auf. Sie nähert sich in ihrem Äußeren immer mehr der Autorin an. Verliert angeblich ihre Wohnung, zieht bei ihr ein. Die Leben der beiden Frauen überlagern sich, zumal L. auch noch behauptet, sie würden sich vom Lyzeum her kennen. L. macht sich für die Autorin unentbehrlich und letztendlich steuert die Geschichte auf eine Katastrophe zu, als die Autorin endlich ihr neues Thema gefunden hat – das wahre Leben von L..

Delphine de Vigan umkreist alle inneren Fragen, die sich eine Bestsellerautorin stellt, die aus dem eigenen Leben für ihr Schreiben schöpft. Wie weit darf man gehen? Was ist die Wahrheit beim Schreiben und wie viel offenbart man als Schreibender wirklich von sich? Faszinierend liest sich dieses Psycho-Spiel zwischen den Frauen, den Identitäten oder doch auch nicht. \’Der Film„ Die üblichen Verdächtigen“ mit Kevin Spacey kommt nicht nur der Autorin in den Sinn, wenn man dieses Buch über Doppelgänger, Identitätenklau und öffentliche Zurschaustellung liest.