Pascale Maret: Mich kriegt ihr nicht, Aus dem Französischen von Anna Taube, Mixtvision Verlag, München 2014, 219 Seiten, €12,90, 978-3-944572-12-3

„Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll, aber was ich klaute, klaute ich nicht, um fette Beute zu machen. Alles, was ich nahm, brauchte ich, und zwar gleich: Ich klaute Lebensmittel, um zu essen, Autos, um wegzukommen, MP3-Player, um Musik zu hören, Computer, um was zu lernen, Schlafsäcke, um nachts nicht zu frieren. Und Flugzeuge, um zu fliegen, aber die Flugzeuge sind wohl ein Kapitel für sich, glaube ich.“

Harrison Travis ( benannt nach dem Schauspieler Harrison Ford ) sitzt nach einer langen Intensivtäterzeit jetzt mit 19 Jahren im Gefängnis. Niemand soll seine Story schreiben oder irgendetwas korrigieren oder gar vorschlagen, er kann ganz allein festhalten, was geschehen ist. Immerhin musste er bis jetzt auch sein Leben absolut kompromisslos allein auf die Reihe bekommen.

In Rückblenden erzählt Harry von seinem Tagen im Wohnwagen auf Maillico Island mit der vulgären, ewig fluchenden Mutter und ihren wechselnden Freunden. Der einzige, der sich wirklich freundlich Harry gegenüber verhalten hat, war Mike. Von ihm bekam er einen Hund geschenkt, an den er sich kuscheln konnte, wenn er sich einsam fühlte. Und einsam war Harry, denn seine Mutter interessiert sich nur für Alkohol und Zigaretten. Sein erstes Diebesgut war dann auch eine Pizza, denn Hunger kannte der Junge wie kein anderer. Mögen auch Lehrer oder Erzieher den Versuch unternommen haben, auf Harrys Mutter Einfluss zu nehmen, um dem Jungen zu helfen. Alle scheiterten an ihrer uneinsichtigen, völlig extrovertierten Art.

Harry beendet als absoluter Außenseiter die Schule nicht, klaut sich alles zusammen, was er Zuhause nie erbitten kann. Er prügelt sich und erhält allerdings strafunmündig seine ersten Verwarnungen von der Polizei.
Früh nabelt sich der Junge von der Mutter ab, zu der er aber, aus einer seltsamen Anhänglichkeit heraus, immer mal für Stunden zurückkehrt, auch unter den gefährlichsten Bedingungen. Als Harry überwintern muss, sucht er sich ein Familienhaus, eine alte Villa und bewundert die Fotos der offenbar heilen Familie. Er versucht, keine Spuren zu hinterlassen und auch nichts zu zerstören.

Mit 15 Jahren hat Harry bereits eine dicke Polizeiakte und er muss vor den Jugendrichter. Aber immer wieder büxt Harry aus, findet Wege sich davonzuschleichen. Er ist, auch wenn er im Erziehungsheim sitzt oder im Knast, anpassungsfähig, er fällt nicht auf und findet schnell einen Weg, um zu fliehen.

Am meisten interessiert sich Harry für Flugzeuge. Alles was er an Theoretischem zusammenkaufen kann, per geklauter Kreditkarte, besorgt er sich. Seltsam ist, dass Harry auch mit fortschreitendem Alter sich keiner Schuld bewusst ist, wenn er anderen Dinge entwendet, jemandem schadet.

Als Überlebenskünstler schafft es Harry sogar, ein Flugzeug zu stehlen und nicht nur eins. Er kann eine bestimmte Kleinmaschine fliegen, aber nie ordentlich landen und dadurch verusacht er enorme Schäden.

So wie Harry immer wieder zur Mutter zurückkehrt, die ihren Sohn als Medienthema zum ersten Mal interessant findet, so bleibt er auch auf seiner Heimatinsel.

Aber Harry ist ein sympathischer Typ, denn er sucht sogar in seiner Rabenmutter vergeblich das Gute. Er liebt das Fliegen, weil das Gefühl der Freiheit ihn berauscht und einfach nur glücklich werden lässt. Denn eins ist klar, Harry ist ein zutiefst alleingelassener Junge, dem jegliche Zuneigung verweigert wurde, der nie Weihnachtsfeste erlebte oder einen Menschen kannte, zu dem er über längere Zeit eine emotionale Bindung aufbauen konnte.

Als er wiedermal ein Flugzeug entwendet und wie durch ein Wunder fast unversehrt bruchlandet, wird er endgültig gefasst.

Hoch ist die Schadenssumme, die Harry verursacht hat, aber irgendwie gibt sogar der letzte Besitzer der Maschine dem Jungen eine Chance, alles wieder gut zu machen.

Es ist das Leben ohne Regeln, die Freiheit von Tag zu Tag zu leben und irgendwie auch Ziele zu haben, das diese Geschichte für junge Leser bei aller Distanz aber auch Mitgefühl so spannend macht.

Die französische Autorin Pascale Maret hat Harrys Geschichte nach einem ähnlichen authentischen Fall in den USA, der durch die Medien ging, frei nachempfunden, aber auch vieles fiktiv hinzugefügt.