Petra Hammesfahr: An einem Tag im November, Diana Verlag, München 2014, 496 Seiten, €19,99, 978-3-453-29155-3
„Für ihn war kein Kind von Natur aus böse. Wie oft hatte er früher erklärt, dass man mit allen reden könnte. Man müsse nur den richtigen Ton finden, dürfte sich nicht anbiedern, solle ruhig in gewissen Situationen die Autorität hervorkehren.“
Kriminalhauptkommissar Arno Klinkhammer ist zufrieden mit seiner Karriere in der sogenannten Provinz, er ist da angekommen, wo er sowieso hinwollte. Im Rhein-Erft-Kreis führt er die Ermittlungen und wird gleich mit dem Fall eines verschwundenen Kindes konfrontiert. Bereits vor 12 Jahren war ein junges Mädchen wie vom Erdboden verschluckt und Klinkhammer hatte zum damaligen Zeitpunkt alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Das darf ihm jetzt nicht passieren.
Petra Hammesfahr erzählt von dem bewussten Tag im November, an dem die fünfjährige Emilie Brenner mit ihrem neuen Fahrrad trotz Regen das Haus verlässt und nie wieder zurückkehren wird. Nach und nach beschreibt die Autorin die Personen, die mittelbar und unmittelbar mit dem Schicksal des Mädchens zu tun haben. Zeitlich weit ausholend in einer Art Vorausblende schildert sie Geschehnisse in Nachbarnfamilien und deren Umkreis.
Emilie ist ein behütetes Kind, ein „Unfall“, wie die Mutter Anne sie auch manchmal eher scherzhaft nennt. Sie und ihr Mann Lucas gehen in ihren Berufen auf und Emilie verbringt viel Zeit bei den Großeltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Auch der Nachbarsjunge von nebenan, Mario, leidet nicht unter materiellen Sorgen, Zeit jedoch finden die Eltern, die im Filmbusiness arbeiten, nie für ihn. Er ist an der Hauptschule gelandet, obwohl er eigentlich mehr könnte. Sein Lehrer, er wohnt ebenfalls in dem ruhigen Einfamilienviertel, ärgert sich über Marios Faulheit und er hadert mit seinem Beruf und dem „Ausländerpack“.
Gedemütigt wird der Junge von dem sogenannten Trio Infernale, drei minderjährigen, schlagkräftigen Mädchen aus seiner Schule. Irina und ihre Cousine Jana, beide aus Kasachstan stammend, und die fette, deutsche Jessie ziehen alle Kinder mit Gewalt und Erpressung ab, die allein auf dem Schulhof stehen. Sie drohen massiv mit der Ermordung der Eltern oder der Entführung kleinerer Geschwister. Die Erwachsenen sehen machtlos zu und wenn, was eher die Ausnahme ist, der ältere Bruder von Irina wieder Kontakt mit der Polizei hat, wird die Schwester grün und blau geschlagen. Ihr Wertebewusstsein jedoch ändert sich nach diesen „Erziehungsmaßnahmen“ nicht. \r\nDie Angst vor den „Russenweibern“ geht im Viertel um und sogar Emilie wird davon erzählen.
Als das Kind verschwunden ist, ermitteln die Beamten in alle Richtungen. In den engen Kreis der Verdächtigen gerät der Kasachen-Clan, der über Gerüchte als kriminell von allen verurteilt wird, aber auch der erwachsene, schizophrene Sohn von Marlies, in dessen Laden Anne oft aushilft und sich als Kosmetikerin selbstständig gemacht hat. Anne, ihre Schwägerin Simone, stichelt immer wieder gern, hat wenig Kontakt zu ihrem Kind. Sie arbeitet bis spät abends und von Freitag bis Sonntag lebt das Mädchen dann bei den gut betuchten Schwiegereltern. Warum fragt man sich, empfindet Anne so viel Empathie und Solidarität für ihre Freundin, die zugegeben ein schweres Schicksal hat? Warum ist die Zeit für die Freundin und das verdiente Geld wichtiger als das eigene Kind?
Als Anne bemerkt, dass sie wieder schwanger ist, und auch noch Zwillinge erwartet, bricht für sie alles zusammen. Bereits über vierzig ahnt sie, dass sie nun ihren Beruf erstmal aufgeben muss. Schnell findet die sogenannte Freundin eine Nachfolgerin für Anne im Geschäft und äußerst gehässige Worte. Lukas steht jedoch an der Seite seiner Frau, unterstützt sie hingebungsvoll und hebt sein Kind als Prinzessin in den siebten Himmel. Emilie ist es nicht gewohnt, von jemandem Widerworte oder gar Ermahnungen zu hören, wenn sie etwas möchte.
An diesem bewussten Tag, an dem es stundenlang regnet, treffen nun viele Ereignisse aufeinander. Emilie sieht nicht ein, warum sie ihr neues Fahrrad nicht draußen zeigen darf. Anne ist extrem genervt und müde, um sich mit dem anspruchsvollen Kind auseinanderzusetzen. Mario, der gerade aus dem Krankenhaus zurückkehrt, spürt einen tiefen Hass auf den Lehrer von gegenüber, der gesehen hat, wie die Russenweiber ihn zusammengeschlagen haben und nicht eingegriffen hat. Marlies Sohn schleicht im Viertel durch die Gegend. Viele geraten in den Kreis der Verdächtigen, sogar die Eltern.
Als die Polizei die Leiche der kleinen Emilie findet, ist klar, der Täter hat sie schwer misshandelt.
Die Sogkraft dieses absolut spannenden Krimis erklärt sich aus der Tatsache, dass alle fiktiven Figuren aus den unterschiedlichsten Milieus Bekannte, Nachbarn sein könnten oder Menschen, die einem irgendwie bekannt vorkommen. Es ist der Alltag, in den das bittere Drama einbricht und niemandem traut man so eine Tat an einem Kind zu. Große Spannungsbögen werden glaubhaft aufgebaut, die den Leser an die Geschichte fesseln. Die verschiedenen Perspektiven, aus denen erzählt wird, ob nun aus Annes Sicht, der des Lehrers oder des Jugendlichen Mario und die zeitlichen Verschiebungen führen dazu, dass man, nunja, das ist gewollt, selbst ermittelt und Vermutungen anstellt. Der an sich immer wieder zweifelnde Kommissar Klinkhammer begibt sich wieder auf eine falsche Spur und niemand kann es ihm verdenken. Es sind die Erwachsenen die auf ganzer Linie versagen, die behüten ohne wirklich Verantwortung zu übernehmen, die maßlos fordern oder wegschauen und sich nicht mal schuldig fühlen.
Petra Hammesfahr gelingt es geschickt und psychologisch genau, ein Bild von all den Familien und Personen zu zeichnen, deren Situation der Leser versteht oder distanziert betrachtet. Es sind die Schwächen und Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft, die jeden berühren, der diese Geschichte liest und die Hilflosigkeit und das Schweigen, das herrscht, wenn es um Missstände geht.
Schreibe einen Kommentar