Uwe Timm: Vogelweide, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 335 Seiten, €19,99, 978-3-462-045710
„Es gibt keinen Mangel an Liebe. Das ist zutiefst unmoralisch, man ist glücklich und will noch mehr. Das ist maßlos.“
Christian Eschenbach, Anfang 50, hat sich zurückgezogen und lebt einsam als Vogelwart auf der Insel Scharhörn. Besucher müssen sich anmelden und werden in einem altmodischen Pferdewagen auf die Insel kutschiert. Früh sammelt Eschenbach Strandgut, beobachtet das Liebesleben der Vögel und macht seine Notizen, später am Tag übersetzt und redigiert er Reiseführer.
In die Beschaulichkeit des stillen Sommerlebens bricht ein Telefonat. Anna will kommen und schon stellen sich die Erinnerungen an die Ereignisse vor sechs Jahren ein. Eschenbach betrieb mit einem Freund eine gut gehende Firma, war mit der großzügigen Selma, einer polnischen Silberschmiedin, liiert, die allerdings in ihrer eigenen Wohnung lebte. Sie wollte unbedingt ein Kind, Eschenbach jedoch lehnte dieses Ansinnen ab, denn er hat bereits eine Tochter. Auf einer Konferenz sieht Eschenbach Anna, eine attraktive rothaarige, anmutige Frau, die ihn fasziniert, die er im Laufe der Zeit immer mehr begehrt. Sie freunden sich an und treffen sich zu viert. Anna ist mit Ewald, einem erfolgreichen Architekt verheiratet, hat zwei Kinder im Grundschulalter.
Mittlerweile weiß der Leser, dass Selma und Ewald zusammen leben und gemeinsam ein Kind erwarten. Unmittelbar denkt man beim Lesen an Goethes „Wahlverwandtschaften“.
Christian und Anna beginnen ein Verhältnis, verzehren sich nach dem anderen und wissen doch, dass es nicht funktionieren kann. Annas Verhalten ist völlig widersprüchlich. Sie betont, dass sie Ewald liebt, ihre Ehe glücklich ist, dass sie ihren Kindern keine Trennung zumuten will und stürzt sich doch in Christians Arme. So abrupt wie die Liaison begann, endet sie auch wieder. Als Anna einen vehementen Schlussstrich unter die Beziehung zu Christian zieht, muss er fast zeitgleich mit seiner Firma Insolvenz anmelden. Christian kämpft um nichts, weder um die Frau, die er liebt, noch um seine Existenz. Er scheint fast erleichtert, dass die Last der Verantwortung von ihm abfällt, er sich nun um nichts mehr kümmern muss, Zeit für sich hat. Nichts bleibt Eschenbach, nicht mal sein alter gut gepflegter Saab.
Selma scheint seltsamerweise nicht sehr verletzt zu sein, hat sie doch intuitiv gespürt, dass etwas mit Eschenbach geschehen war. Sie spendet ihrem Freund Trost, genau so wie sie sich um Ewald kümmert.
„Alle litten, litten aneinander, ein verschlungenes, tiefes Leid. Tritt man jedoch zurück, scheint die Komik der Verwicklung auf, natürlich konnte keiner von uns lachen.“
Anna flieht in die USA zu ihrem Bruder und bleibt auch dort. Nach sechs Jahren ruft sie Christian an und besucht ihn auf seiner Insel.
Das Begehren ist stärker als das Eheversprechen, der Glaube, doch eigentlich glücklich zu sein. Annas Sicht auf ihr eigenes Leben kann der Leser erahnen, ihr Handeln vielleicht verstehen. Eschenbach hat sich selbst aus dem Paradies, das es für ihn kurzzeitig gab, vertrieben. Frei sein von Lasten, gebunden sein an möglicherweise zwei Menschen – alles machbar in der gegenwärtigen Gesellschaft und doch nicht.
Uwe Timms Roman handelt von Menschen, die sich nicht ins Leben werfen, sondern bereits vieles hinter sich haben, genau reflektieren. Diese Geschichte von Eschenbach, Selma, Ewald und Anna legt man nicht so schnell beiseite, denn Uwe Timm hat so viele kluge Sätze geschrieben, die den Leser nachdenklich werden lassen, ihn beschäftigen, über eine lange Zeit.
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