Anne Prettin: Der Ruf des Eisvogels, Lübbe Verlag, Köln 2023, 464 Seiten, €22,00, 978-3-7857-2813-0

„Der Ruf des Eisvogels, dachte sie. Und da schoss er schon wie ein Blitz im orangetürkisenen Federkleid hinab ins Wasser.

Und wenn der Eisvogel ruft nach dir,

dann fliege ich stehenden Fußes zurück zu dir.“

Die sechsundsechzigjährige Olga erinnert sich in diesem Roman an ihr wechselvolles, beruflich sehr erfülltes Leben als Gynäkologin. Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte erzählt Anne Prettin in Zeitsprüngen vom 1. April 1925, dem Geburtsjahr ihrer Hauptfigur, bis zum Jahr 1991, in dem sie in ihren Geburtsort mit Tochter Becki und Enkeltochter Sara zurückkehrt. Es sollte eine Überraschung werden, doch mit dem Ort Ginsterburg in der Uckermark verbinden sich für Olga wunderbare wie absolut furchtbare Erinnerungen, die sie bisher weit von sich geschoben hatte. Nie hat sie daran gedacht, dass sie Rückführungsansprüche zum Ende der DDR stellen könnte und nie hat sie die Briefe ihrer einst engsten Freundin Lotte aus Schweden geöffnet. Beim Lesen fragt man sich natürlich, welche Geheimnisse die moralisch so integre Olga zu verbergen hat.

Als Olga geboren wurde, starb ihre Mutter Elli nach der Geburt, da Olgas Vater als Arzt versagte. Nie wird ihr mürrischer, stets abweisender Vater ein normales Verhältnis zu seiner Tochter aufbauen können, sprach er ihr sogar die Befähigung ab, Medizinerin zu werden. Sohn Karl wollte diese Familientradition nicht fortführen. Auch Olgas warmherziger Großvater, genannt Pa, arbeitete als Gynäkologe und übernahm Olgas Erziehung zu einem naturverbundenen Menschen. Er tröstete sie mit der Vorstellung, dass die Seele ihrer Mutter in einem Eisvogel weiterleben würde.

In verschiedenen Stationen verfolgt man nun Olgas Entwicklung zu einem selbstbewussten Mädchen, dass mit ihren Freunden Lotte, Annemarie, Gero und Fritz aufwächst.

Vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der vergangenen sechsundsechzig Jahre schaut die Autorin auch in den Lebensalltag der Menschen im Nationalsozialismus, der Nachkriegszeit und der folgenden Entwicklung in Westdeutschland bis hin zum Fall der Mauer. Als Lotte und Olga achtzehn Jahre alt sind, spitzen sich für alle Kindheitsfreunde die Konflikte zu. Die attraktive, blonde Lotto glaubt, dass sie die Auserwählte für den widerborstigen wie rebellischen Fritz ist und der biedere Gero hofft, dass Olga, die für ihr Leben ganz andere Pläne hat, ihn vor seinem Einzug in den Krieg heiraten wird. Am Ende des Krieges wird Gero gefallen sein und Lotte ist mit ihren schwedischen Eltern und Fritz nach Schweden gegangen. Dabei wissen die Lesenden längst, dass Olgas große Liebe Fritz heißt. Dass Becki nicht sein Kind ist und Geros schon gar nicht, bleibt ein Rätsel bis fast bis zum Ende des Romans.

Gut recherchiert und szenisch überzeugend geschrieben vermittelt die Handlung rund um Olga ein Bild von einer Frau, die geprägt von der medizinischen Kunst und Zuneigung ihres Großvaters, immer ein Ziel hatte, Ärztin zu werden.
Wie sie diesen steinigen Weg mit Kind verwirklicht hat, liest sich unterhaltsam und zeitweilig etwas zu überladen mit Geschehnissen und Geschichten. Dass Familie nicht alles ist, nur Pa ist die Ausnahme, führt Olgas Lebensweg eindeutig vor. Geholfen habe ihr Menschen, die sehen wollten, was wirklich in ihr steckt. Eindrücklich ist die kurze Begegnung Olgas 1947 auf der Flucht mit ihrer Cousine in Oldenburg, die ihr und ihrer Tochter nicht mal ein Stück Brot angeboten hat und die Tür vor der Nase zuschlug. Ein Nachbar hat Olga dann als „Polenpack“ beschimpft und aus dem Haus geworfen. Wie die deutsche Bevölkerung erbarmungslos mit Zwangsarbeitern umgegangen ist und später mit der eigenen Schuld, wird thematisiert, aber auch der schwierige Start einer Frau mit Familie in die Arbeitswelt der Bundesrepublik. Wie sich Olga dann als geschiedene Frau mit Kind nach ihrer Fachspezialisierung in dem Ort Plön durchgesetzt hat, wurde leider ausgelassen.

Keine Frage, Anne Prettin will viel und auch tiefgründig erzählen und bleibt bei der Masse an Personal, weitschweifigen Ereignissen und Naturbeschreibungen dann doch an der Oberfläche, insbesondere bei der manchmal zu holzschnittartigen Figurenzeichnung und dem aufgesetzten Happy End.