Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen, Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand Literaturverlag, München 2022, 384 Seiten, €22,00, 978-3-630-87647-4

„Für diese Studierenden war Aïcha jenseits der Theorie: Sie war die wandelnde Revolution. Sie war der lebende Beweis, dass man den Verhältnissen entkommen und sich durch Bildung emanzipieren konnte.“

Am 3. Oktober 1981 in Rabat, in Marokko geboren, setzt die bekannte Autorin Leïla Slimani, die jetzt in Lissabon lebt, mit diesem Roman ihre Erinnerungen, begonnen mit dem Roman „Das Leben der Anderen“, fort.

Die kluge, wie diplomatische Mathilde Belhaj, einst aus Frankreich nach Marokko gekommen, die mit ihrem Mann Amine, auch dank ihrer Fähigkeiten, in Meknès zu Wohlstand gelangt ist, ist nun sehr gealtert. Die Sonne und die Winde setzen ihr zu, der ewige Kampf mit ihrem egoistischen, sturen, königstreuen Ehemann lässt sie müde wirken. Dabei legt sie, die auch eine Krankenstation betreibt, immer etwas Geld beiseite, aus Rache für all ihre Demütigungen durch ihren immer noch gut aussehenden Ehemann und seinen Seitensprüngen.
Amine, bildungsfern und doch durch cleveren Landkauf und die gute Nutzung von Krediten ( die Bücher macht Mathilde ) zum Herrn aufgestiegen, liebt seine Kinder, Selim und Aïcha. Die kluge Tochter hat nun vier Jahre in Straßburg Medizin studiert. Für sie und nicht für seine Frau hat er das Schwimmbad bauen lassen, obwohl er sich doch lang dagegen gesträubt hat.
Als Aïcha in Europa ankam, war sie wirklich total verunsichert. Vom Rassismus ihrer französischen Wirtin gedemütigt, stürzt sie sich ins Studium. Alles um sie herum, nimmt sie kaum wahr. Als würde sie immer das Bauernmädchen bleiben und sich nie emanzipieren. Es ist das Jahr 1968 – Aïcha kann die Augen nicht vor all den Forderungen nach Veränderungen schließen und sie wird Mehdi, den jungen Mann, der sich aus seinen familiären, einengenden Umständen lösen musste, kennenlernen. Selim geht es schlecht als er erfährt, dass seine Schwester wieder nach Hause zurückkehrt. Er ist die Enttäuschung des Vaters, er, der nichts auf die Beine stellt und auch noch ein sexuelles Verhältnis mit seiner Tante Selma beginnt, die aggressiv, genervt und vor allem sich nach Freiheit sehnend in der Stadt in die Prostitution abrutschen wird.

An den gesellschaftspolitischen Ereignissen am Ende der 1960er Jahre entlang erzählt Leïla Slimani
in diesem Roman von der Generation der Kinder. Was die Eltern bei allen Konflikten geschaffen haben, sollen die Kinder nun genießen und natürlich sollen sie ein besseres Leben führen.
Selim und Aïcha werden sich jeweils auf ihre Art ins Leben stürzen, es genießen und tanzen.

In vielen anschaulichen, atmosphärisch dichten Szenen verdeutlicht die französische Autorin wie sehr die Generationen in ihren Ansichten auseinanderklaffen. Einerseits sind da die religiösen Zwänge und andererseits die Loslösung von der Vätergeneration und ihren Verbrechen in Europa.
Es ist die Zerrissenheit der Figuren, die sich wie ein roter Faden durch die Handlung des zweiten Bandes zieht, die die Lesenden fesselt und vor allem die widersprüchlichen Entwicklungen auf dem Land und in der Stadt.