Kristin Valla: Das Haus über dem Fjord, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mareverlag, Hamburg 2022, 319 Seiten, €24,00, 978-3-86648-649-2

„Im Spiegel sah ich sie an. Sie starrte mich an, mit ihrem zierlichen Körper, erzählte mir noch einmal, wie unterschiedlich wir seien, niemals mit Worten, nur mit Blicken.“

Elin Berg arbeitet mehr oder weniger enthusiastisch bei einem Modemagazin als Journalistin in Oslo. Mit Anfang dreißig kehrt sie nach dem Tod ihrer Mutter Wenche in ihren Heimatort Mo i Rana zurück. Geplant ist der Verkauf des Hauses, dass der Großvater in Bauhaus-Anlehnung von einem Architekten entwerfen ließ. Vollgestopft mit Erinnerungen, Elins Mutter konnte nichts wegwerfen, muss entschieden werden, was eventuell verkauft oder im Müll landet.
In Rückblenden erzählt Elin von den tragischen Geschehnissen in ihrer Familie. Gleich zu Beginn des Romans schockiert sie die Lesenden mit dem frühen Tod ihres Vaters und ihrer älteren Brüder Vegard und Thomas im Jahr 1985. Ein Erdrutsch am Nordfjord reißt Häuser und Menschen in die Tiefe. Elin und ihre Mutter sind zu dem Familienfest, bei dem das Unglück geschah, nicht angereist, weil Elin sich als Zehnjährige weigerte, ein Kleid zu tragen. Eigenwillig, verschlossen und unschlüssig, wenn es um Entscheidungen geht, ist die Erzählerin dieser Geschichte ohne Frage. Dass Mutter und Tochter durch die traurigen Ereignisse enger zusammenrücken, ist kaum der Fall. Ganz im Gegenteil, beim Erzählen von Situationen zwischen Mutter und Tochter gewinnen die Lesenden eher den Eindruck, dass die Mutter immer auf Distanz zur Umwelt gegangen ist. So zieht Elin auch als Sechzehnjährige zu ihrer geliebten Großmutter nach Oslo.
Beim Durchsehen der vielen Dinge im Haus über dem Fjord, Wenche hat sogar nach über zwanzig Jahren die Sachen ihres Mannes aufgehoben, entdeckt Elin im Taschenkalender ihres Vaters, dass er, der beruflich viel auf Reisen war, nach dem Tag des Unglücks nichts mehr geplant hatte. Mit Ola, dem einstigen Jugendfreund ihrer Brüder, der jetzt auf einem Hof lebt und als Schriftsteller schmale Bücher veröffentlicht, und seiner lebenspraktischen Mutter Sara beginnen die Aufräumarbeiten im Haus.
Berichtet wird von der Kindheitsfreundin Nina und ihrem jetzigen Mann Stian. Da ist noch ein Konto der Mutter und es gibt Gespräche mit dem Makler. Die Handlung plätschert sprachlich sehr schön vor sich hin. Es geht um Lebensplanungen mit Kindern und wer das Spielzeug aus dem Haus erben möchte. Dabei erfährt Elin, dass Ola eine fünfjährige Tochter hat, von der Mutter aber getrennt lebt. Elin und Ola nähern sich wieder an, zumal Elin einst als Jugendliche Ola zu gern verführt hätte. Als Nina und Stian dann ein Angebot fürs Haus vorlegen, kann sich Elin wie immer nicht entscheiden, obwohl kaum Anwärter den geforderten Preis zahlen wollen.
Als Elin dann zur Chefredakteurin aufsteigt, beginnt sie an ihrem Job zu zweifeln. Sie fühlt sich zu Ola hingezogen, steht sich aber wie so oft selbst im Weg.
Und dann macht sie eine Entdeckung, die hier nicht verraten werden soll und die gesamte Vorgeschichte ihrer Familientragödie im doppelten Sinn auf den Kopf stellt. Bei einer Geschäftsreise nach Frankreich steht sie in einem kleinen Ort, hier haben Elins Eltern einst ein Anwesen mit Freunden erworben, vor dem Grab ihres Vaters. Alle folgenden Erkenntnisse heben Elins innere Blockaden auf und sie kann sich endlich auf ihr Leben konzentrieren.

Kristin Valla hat eine sehr feinfühlige Handlung ersonnen, literarisch kraftvoll, aber auch filigran in den Charakterstudien, verzweifelt angesichts der Grausamkeit in der Welt und voller Jubel über die Schönheit des Lebens. Ein starkes, intensives Lektüreerlebnis, dazu geeignet, das eigene Denken zu verändern.