Juli Zeh: Über Menschen, Luchterhand Verlag, München 2021, 412 Seiten, € 17,99, 978-3-630-87667-2

„Außerdem spürt sie Verwunderung. Als blickte sie auf die geheime Unterseite der Nation. Kaum zu glauben, dass sich ein stinkreiches Land Regionen leistet, in denen es nichts gibt. Keine Ärzte, keine Apotheken, keine Sportvereine, keine Busse, keine Kneipen, keine Kindergärten oder Schulen. Keinen Gemüseladen, keinen Bäcker, keinen Fleischer. Regionen, in denen die Rentner nicht von der Rente leben können und junge Frauen Tag und Nacht arbeiten müssen, um ihre Kinder zu versorgen. … Ansonsten erwartet man, dass alle klaglos funktionieren. Wer aufbegehrt, wird verunglimpft, als dummer Bauer, als Irgendwas-Leugner oder gleich als Demokratiefeind. Irgendwer, denkt Dora, hat Deutschland die AFD beim Universum bestellt und bekommen.“

Starker Tobak, den Juli Zeh, sie lebt selbst im Brandenburger Land, da auffährt.
Dem Zeitgeist folgend lässt die bekannte Autorin ihre Hauptfigur Dora aus Berlin-Kreuzberg mit ihrer Hündin Jochen der Rochen in ein fiktives Dorf namens Bracken in der Prignitz gelegen ziehen. Hier hat die Sechsunddreißigjährige, aus deren Sicht erzählt wird, in einem typische Straßendorf ein ehemaliges Gutsverwalterhaus mit 4000 m² verwilderter Brachfläche gekauft. Wie man einen Gemüsegarten anlegt, erfährt die Werbetexterin von Youtube. Nachdem ihre Beziehung mit Robert, dem sie jegliche Gefolgschaft verweigerte, zerbrochen ist, erhofft sie sich einen neuen Lebensabschnitt mitten in der Pampa. Unerträglich wurde Roberts nervige Hysterie zuerst rund den Klimaschutz und später die aufgesetzte Panik angesichts einer möglichen Virusansteckung. Er, der als Freiberufler sowieso zu Hause arbeitet, konnte nicht ertragen, dass auch Dora nun im Home-Office tätig ist. Erstaunlich bleibt, dass zwei erwachsene Menschen es in einer über 80 m² großen Wohnung nicht schaffen, sich aus dem Weg zu gehen.

„Fest steht, das alle Angst haben und dabei meinen, das nur die eigene Angst die richtige sei. Die einen fürchten sich vor Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe. Die einen vor der Pandemie, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur. Dora fürchtet, dass die Demokratie am Kampf der Ängste zerbricht. Und genau wie alle anderen glaubt sie, dass alle anderen verrückt geworden sind. Das ist so verdammt anstrengend. Wie viel einfacher wäre es, eine Seite zu wählen.“

Ohne wirkliche Freunde und fern jeglicher Landhausromantik träumt sich Dora gern zu Alexander Gerst ins Weltall. Die Probleme der blauen Erde von oben weit fort betrachten und einfach schweigen. Doch nun sitzt Dora, die sich um ehrlich zu sein, gerade in der Corona-Krise mit Luxusproblemen herumschlägt, nun in der Provinz fest. Nachdem ihr der Job in einer lapidaren, fast standardmäßig aufgesetzten E-Mail gekündigt wird, wendet sich allerdings das Blatt.
In ironisch-sarkastisch spitzen Formulierungen ergeht sich Juli Zeh in ihrer Beschreibung des abgehobenen Milieus der Werbeagenturwelt mit ihren aufgesetzt lächerlichen englischen Slogans ( nichts ist aufdringlicher als schlecht gemachte Werbung ) und des Prekariats der Intellektuellen, die die Wahrheit, wie auch immer sie ihrer Meinung auszusehen hat, für sich gepachtet haben.

In Bracken wird Dora nun mit der hiesigen Landbevölkerung konfrontiert, und wie vorauszusehen ist, auch mit dem Dorf-Nazi namens Gote, der gleich nebenan hinter einer Mauer in einem Bauwagen haust.
Schnell verfällt Juli Zehs Hauptfigur in ihre sogenannte Rassismus – Starre, wenn sie bemerkt, dass die Nachbarn offensichtlich AFD ( wenn auch nur aus Protest ) wählen, ausländerfeindliche Witze zum besten geben und das Horst Wessel – Lied lauthals singen. Dora ist in der moralischen Falle. Finanziell kann sie keine großen Sprünge mehr machen, womit an Flucht aus dem braunen Sumpf nicht mehr zu denken ist. Und hier kippt die ganze Geschichte, denn die rechts gesinnten Nachbarn sind auch ziemlich normale Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrem Pragmatismus.
Da wird nicht lang gefragt, sondern Dora in vielerlei Hinsicht geholfen. Zwar bleibt der Umgangston etwas rüde und doch packen die Nachbarn an und helfen der Städterin, die seltsam stur auf ihre Unabhängigkeit pocht, allerdings allein und mit Youtube sicher nicht weiterkommt.
Sicher kann der Leser die Brackener Nachbarn, die auch untereinander nicht gerade dicke Freunde sind, nicht ins Herz schließen und doch beginnt so ein langsamer Prozess der Annäherung.
Da stellt Gote Dora einfach mal ein Bett ins Haus, da sie ja keins hat. Alle, die den Ort nicht verlassen haben, kennen Doras Haus, denn es war einst ihr Kindergarten. Wie die Lebensumstände der Leute auf dem Land gerade in einzelnen Regionen in Brandenburg ist, hat Dora kaum vor ihrem Einzug recherchiert. Nicht alle haben die Möglichkeit in die Stadt auszuweichen, wenn das Land einfach mal nervt. Denn hier fährt der Bus nun mal in riesigen Zeitabständen und ohne Auto ist jeder aufgeschmissen.
Ein einsames Kind, Franzi, läuft Dora dann auch noch über den Weg. Gotes Tochter wurde von der Mutter, die von Gote getrennt lebt, aufs Land geschickt.

Unbedachte Sätze auf Kosten anderer Menschen, Hasstiraden ( eine Raumforderung in einer Region, die mehr davon hat als man sich vorstellen kann ), Empfindsamkeit ( der Dorf-Nazi kann nicht in dem Haus leben, in dem er mal mit seiner Frau glücklich war ), Wutattacken, Provinzialismus und wahre soziale Probleme krachen in diesem Roman in klaren Dialogen gnadenlos aufeinander. In dieser Geschichte zur Zeit der ersten Welle der Pandemie, in der Dora mittendrin steht, kann sie nur eins: sich menschlich verhalten.