Leïla Slimani: Das Land der Anderen, Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand Literaturverlag, München 2021, 379 Seiten, €22,00, 978-3-630-87646-7

„Er wollte eine Frau wie seine Mutter, die ihn ohne viel Worte verstand, mit der Geduld und der Selbstverleugnung seines Volkes, die wenig sprach und viel arbeitete. Eine Frau, die ihn am Abend erwartete, still und ergeben, die ihm beim Essen zusah und darin all ihr Glück und ihre Erfüllung fand. Mathilde machte ihn zu einem Verräter und Ketzer.“

Amine Belhaj diente als Offizier in der französischen Armee, lernte die sehr junge, kapriziöse Mathilde 1944 im Elsass kennen. Beide verliebten sich. Mathilde war froh ihre Heimat und die garstige Schwester los zu sein. Als der Marokkaner Amine ein Stück Land in Meknès erbt, ziehen sie als Ehepaar dorthin. Im Laufe der Ehe wird Amine immer wieder zu seiner Frau sagen: „So ist das hier.“ Denn Mathilde hat ihren eigenen Kopf, sie sieht wie fleißig und einfallsreich ihr Mann ist und sie achtet ihn, aber sie ordnet sich ihm nicht unter. Immerhin ist sie einen Kopf größer als Amine. Dass ihr Leben an seiner Seite in diesem fremden Marokko für sie nicht das große Glück sein wird, versteht der Leser relativ schnell. Sie als Französin stammt aus dem Kolonialland Frankreich und sie erlebt die inneren Spannungen gegen den Okkupanten, die Auflehnung, die gewaltsamen Auseinandersetzungen und die Unabhängigkeitsbewegung, der sich auch Omar, der Bruder von Amine anschließt. Doch als Frau eines Arabers wird sie von der französischen Bevölkerung missachtet. Mathilde, die so gern lacht, kann nicht verstehen, dass ihr Mann und seine Familie, die sie freundlich aufnimmt, so wenig Freude am Schönen haben. Laute Streitereien sind der Grundton dieser Ehe. Wobei Amine seine Frau liebt und im Laufe der Jahre auch achtet, was sie beide erreicht haben, auch wenn er sie schlägt. Er kann seine Gefühle nie in Worte fassen. Mathilde setzt sich auf ihre Weise durch, auch wenn sie sich zu Beginn vor dem wütenden heißen Saharawind, den Schlangen, Skorpionen, Ratten und Kojoten fürchtet. Sie wird nie die Hausfrau, die Amine sich wünscht. Auch wenn sie sich noch so viel Mühe gibt. Da sie beim Kochen nebenher liest, ist das Essen oft verbrannt oder ungenießbar.

Leïla Slimani versetzt sich in ihre Figuren und zeigt sie dem Leser, in all ihrer Verzweiflung, aber auch Freude. Mathilde wird zwei Kinder gebären: Aïcha und Selim. Beiden Kindern erzählt sie liebend gern Märchen und Geschichten. Sie bemerkt nicht, wie die hochbegabte Aïcha in der Schule wegen ihres krausen nicht zu bändigenden Haares grausam gemobbt wird. Für die Franzosen ist das sensible Mädchen die „stinkende Berberin“.

Leïla Slimani erzählt episodenhaft von den zehn Jahren Mathildes in Marokko bis 1955. Tragisch ist die Geschichte von Aïchas Geburtstagsfeier, den absolut schief laufenden Weihnachtsfesten oder den gemeinsamen Treffen mit den Nachbarn, in denen Amine seine Frau und ihr Verhalten nicht ertragen kann. Amine, der ehrgeizige Landwirt, der Obstplantagen anlegt, sich immer wieder Gedanken um alles macht, wird in der Stadt von den französischen Verkäuferinnen geduzt und wie ein Krimineller behandelt. Aber so wie er schlecht behandelt wird, so geht er auch mit seiner Familie um. Doch Mathilde lässt sich nicht wie ein Kind ansprechen und rumkommandieren, sie weigert sich, die Erwartungen ihres Mannes zu erfüllen.

Leïla Slimani wurde in Rabat geboren und so beschreibt sie in diesem ersten Teil der geplanten autobiographisch angelegten Trilogie ihre Großelterngeneration. Stehen sie im Mittelpunkt, so entwirft die Autorin aber auch ein breites gesellschaftliches Panorama. Die Autorin folgt den einzelnen Figuren, ohne ihr handeln zu bewerten. Und dadurch setzt sich für den Leser ein Bild der Zeit und Gesellschaft zusammen und er kann sich ein eigenes Urteil bilden.

Keine Frage, man darf auf den zweiten Teil gespannt sein, in dem sich alles um Aïcha und Selim drehen wird und Fragen der Identität zwischen Marokko und Frankreich.