Melanie Raabe: Die Kunst des Verschwindens, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2022, 396 Seiten, €22,00, 978-3-442-75929-3

„Ellen lebt. Daran will, daran muss ich einfach glauben. Und ich werde sie finden. Ich weiß nicht, wieso, aber mir ist, als weiß Ellen etwas über mich, das ich selbst noch nicht herausbekommen habe. Etwas Wichtiges.“

Die beiden Frauen, Anfang 30, die ausgerechnet am gleichen Tag Geburtstag haben, laufen sich per Zufall oder doch nicht, zwischen den Jahren in Berlin-Charlottenburg über den Weg. Ellen Kirsch und Nico Roba erzählen jeweils aus ihrer eigenen Perspektive und geben sich ganz ihren Gedankenströmen und Erinnerungen hin. Nicos Freund Ben hat sich eine Auszeit genommen, um einen Berg zu besteigen. Da Nico immer wieder von einem gewissen Kurt nachdenkt, glaubt man anfänglich, dass die Fotografin, die eigentlich immer Schauspielerin werden wollte, zwischen zwei Männern steht. Doch weit gefehlt, denn sie nennt ihren bösartigen Hirntumor Kurt. Niemand weiß davon. Ihre Mutter ist bei einem Schiffsunglück verstorben, ihr Vater hat erneut geheiratet. Auch wenn Nico ihren neunjährigen Halbbruder heiß und innig liebt, er ist der letzte, dem sie sich anvertrauen würde. Einfacher ist es da schon, mit jemandem zu reden, den man gar nicht kennt, z.B. Ellen. Ellen kommt aus New York in die ihr doch fremd gewordene Stadt Berlin und muss erfahren, dass ihr bester, schwuler Freund Anthony gestorben ist. Als international bekannte Schauspielerin hat Ellen eine traumhafte Karriere begonnen und soll als Hollywoodstar auch in Berlin ihren neuesten Film promoten. Als Ellen am Abend nach einem Treffen auf der Straße drei Halbstarken begegnet, beleidigen diese sie mit sexistischen Sprüchen und Ellen fährt ziemlich kraftvoll ihren Arm aus. Natürlich wird wieder alles gefilmt und ein Shitstorm ergießt sich über den Star.
( Eigentlich ist Berlin die Stadt, in der berühmte Leute kaum beachtet werden. Gerade in Charlottenburg leben so viele Schauspieler, die ohne jegliche Behinderungen einkaufen gehen können oder ihr Auto an der Tankstelle putzen. ) Doch Ellen weiß sich, durch ihren Auftritt in einer Talkshow, zu wehren.
Als Ellen und Nico sich nun begegnen, unterhalten sie sich wie zwei Frauen im gleichen Alter. Sie stellen fest, dass die Lust am Verwandeln sie verbindet. Jede kann frei sprechen. Nico ahnt nicht, dass Ellen mehr über sie weiß. Als PR-Trick sollte Ellen kurz vor der Pressekonferenz für ihren neuen Film kurzzeitig verschwinden. Doch Ellen wird sich ganz in Luft auflösen, nachdem sie Nico die Kette ihrer Mutter übergeben hat, die Nico schon so lange sucht und auch immer wieder ihren Vater danach befragt hatte.
Ab diesem Moment im Roman beginnt es wirklich spannend zu werden, denn nun stellt sich die Frage, was verbindet die beiden so unterschiedlichen Frauen. Der Titel „Brügge sehen und sterben“ bringt Nico auf die Idee, Ellen in Brügge zu suchen. Auf ihren Fersen befindet sich ein gewisser Patrick, der angeblich Ellens Freund ist.

Klar ist, Ellen will sich auf jeden Fall aus der Öffentlichkeit zurückziehen und sich nicht mehr Menschen ausliefern, die glauben, dass sie für alle Freiwild ist. Denn Patrick ist nicht ihr Freund, sondern ihr bereits verurteilter Stalker.

Es braucht eine Zeit, ehe die Handlung Fahrt aufnimmt und Lesende verstehen, was es mit den beiden Frauen auf sich hat. Über der Geschichte schwebt eine bestimmte Melancholie, denn weder Nico noch Ellen sind mit ihren Leben zufrieden. Ellen mag ihren Beruf, aber nicht die Öffentlichkeit. Nico fotografiert Menschen, damit diese Passbilder haben, aber eigentlich wollte sie Motive finden, die sie als Fotos in Ausstellungen zeigen kann.

Trotz Freundeskreise fühlen sich beide Frauen einsam. Ob sie ihren Weg finden werden, wird sich herausstellen, wenn die letzten Geheimnisse gelüftet sind.