Nicci French: Eine bittere Wahrheit, Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller, C.Bertelsmann in der Penguin Randomhouse Verlagsgruppe, München 2020, 5050 Seiten, €16,00, 978-3-570-10378-4

„Und jetzt war die Person, die sie missbraucht hatte, tot. Mr Rees, der Mathelehrer. Stuart Rees, ihr Nachbar, Säule und Stütze des kleinen Dorfes. Seine Leiche in ihrem Schuppen, sein Wagen hinter ihrem Haus geparkt, sie selbst beschmiert mit seinem Blut.“

Thabita Hardy sitzt seit dem 21. Dezember in Untersuchungshaft. Sie kann sich nur schemenhaft an diesen stürmischen Tag, an dem ein umgestürzter Baum die Dorfgemeinschaft von Okeham, einschloss, erinnern. Eines jedoch weiß sie ganz genau, sie hat Stuart Rees nicht getötet. Schnell schießen sich die Ermittler auf Thabita als Täterin ein. Die Leiche wurde auf ihrem Grundstück gefunden, das Blut klebte an ihr und sie hatte der Polizei in der ersten Vernehmung verschwiegen, dass Rees sie als fünfzehnjährige Schülerin missbraucht hatte. Ein anonymer Brief hatte die Ermittler aufgeklärt. Aber Thabita ist unschuldig, das bekräftigt sie in jedem Gespräch mit ihrer Verteidigerin Mora Piozzi. Diese hat allerdings auch noch herausgefunden, dass Thabita mehrere depressive Schübe hatte und im Krankenhaus behandelt wurde.

Hatte Thabita nach der Schulzeit ihrem Heimatort Okeham den Rücken gekehrt, so ist sie nach ihrer Zeit in London auch mit der finanziellen Hilfe einer Erbschaft wieder nach Okeham zurückgekehrt, in dem sie eigentlich nie glücklich war. Warum sie das getan hat, darüber wird sie sich erst im Gefängnis Gedanken machen. Warum sie auch den Missbrauch durch den Lehrer, der ihr kurzzeitig das Gefühl gegeben hatte, begehrenswert zu sein, nie öffentlich gemacht hat und ab einem bestimmten Punkt über sich ergehen ließ, kann sie im Nachhinein ebenfalls nicht fassen.
Wenn man Thabita kennenlernt, dann hat man eine sehr wehrhafte, drahtige, eigenständige und zielorientierte Person vor sich. Die junge Frau lehnt sich gegen Ungerechtigkeiten auf, auch im Gefängnis. Dafür kassiert sie Prügel und gleichzeitig Anerkennung, da sie niemanden verpfeift. Im Dorf ist Thabita eher die einsame Außenseiterin, die allerdings sehr schnell und impulsiv handelt und der Freak, der im eiskalten Meer regelmäßig schwimmen geht.
Als klar wird, dass die Anwältin Thabita nicht glaubt, entschließt sich die junge Frau selbst Ermittlungen anzustellen und sich vor Gericht zu verteidigen.

Die beiden Autoren Nicci Gerrard und Sean French haben sich einen ungewöhnlichen Fall ausgedacht, in dessen Zentrum ein ambivalenter Charakter steht. Thabita sitzt im Gefängnis und muss nun von hier aus mittels Besuchern aus dem Dorf und der Unterstützung einer ehemaligen Mitgefangenen die Fakten zusammentragen und analysieren. Zwar stellt das Gericht der ahnungslosen Verteidigerin alle Beweisstücke zur Verfügung und auch die Vernehmungsprotokolle der Polizei und doch kann Thabita ohne direkte Nachfragen wenig ausrichten. Alle Finger zeigen auf Thabita, sie ist und bleibt die Schuldige.

Als es zum Gerichtsprozess kommt, hat sich Thabita einen guten Wissensstand erarbeitet. Allerdings verhält sie sich nicht wie eine professionelle Verteidigerin. Immer wieder muss die geduldige Richterin sie auffordern, ihr Temperament zu zügeln, Fragen zu stellen und sich nicht mit den Zeugen zu streiten. Zeitweilig kommt es so zu unfreiwillig komischen Szenen, wenn Thabita plötzlich im Prozess einfach ein Gespräch mit einem der Geschworenen anfängt oder einen Zeugen beschimpft.

Von einigen Längen abgesehen liest sich dieser Kriminalfall absolut spannend, denn psychologisch interessant zeigt die Handlung einen Menschen, der sich nur auf sich selbst verlassen kann. Thabita erkennt, dass angeblich loyale Bekannte sich als Lügner herausstellen und andere wiederum absolut ehrlich und treu sind. Dank Thabitas scharfem Verstand wird sie die schlampige Polizeiarbeit dem Gericht offenbaren, in der Beweisführung den Geschworenen klaren Wein einschenken und sich nicht von den Juristen verunsichern lassen.

Gute Lektüre für ein graues Winterwochenende!