Kate Atkinson: Weiter Himmel, Aus dem Englischen von Anette Grube, Dumont Buchverlag, Köln 2021, 480 S., €24,00, 978-3-8321-8001-0
„Jackson schauderte und dachte an all die im Laufe der Jahre verlorenen Mädchen. Verloren im Wald, auf Eisenbahngleisen, in Seitenstraßen, in Kellern, in Parks, in Straßengräben, in den eigenen vier Wänden. Es gab so viele Orte, an denen man ein Mädchen verlieren konnte. All die, die er nicht gerettet hatte.“
Sofort denkt der Privatdetektiv Jackson Brodie an das junge Mädchen mit dem Einhornrucksack, dass einfach so beim Trampen zu einem Fremden ins Auto gestiegen ist und fort war. Aber noch mehr Mädchen tauchen in diesem Krimi auf, die auf ein besseres Leben hoffen und in der Drogenhölle und Prostitution landen werden. Gleich zu Beginn lernt der Leser die beiden sympathischen polnischen Freundinnen kennen, die von Danzig aus Richtung Großbritannien mit großen Hoffnungen auf bessere Jobs in Hotels fliegen. Dass der seriöse Mr Price, mit dem sie gesprochen haben, als Arbeitsvermittler nicht in einem Großraumbüro sitzt, sondern in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz mit entsprechender Technik können die beiden trotz aller Vorsicht nicht ahnen.
Mr Price ist im wahren Leben ein miserabler Anwalt, der Stephen Mellors heißt und sich mit dem gewieften Thomas Holroyd und lässigen Andrew Bragg im Belvedere – Golfclub oft trifft. Diese drei gut situierten weißen Männer gehen nach außen hin ihren Geschäften nach, im Hinterzimmer jedoch betreiben sie modernen Sklavenhandel mit jungen Frauen. Abgesehen haben sich die beiden diese Geschäftsgebaren von zwei ebenfalls einst seriös wirkenden Männern aus der Stadtverwaltung, die wegen Missbrauch Minderjähriger vor Jahren in den Knast gehen mussten. Wer noch alles in deren Machenschaften verwickelt waren, versuchen nach der aktuellen Aussage eines Opfers zwei junge Ermittlerinnen herauszufinden.
Parallel zu diesen Erzählsträngen erzählt Kate Atkinson natürlich auch von Jackson Brodies ziemlich langweiliger Arbeit als Privatdetektiv. Er wird oft von Ehefrauen auf die angeblich untreuen Ehemänner angesetzt. Frustrierend ist allerdings auch der Umgang mit seinem Sohn Nathan, der im typischen Flegelalter allen auf den Geist geht.
Zu den drei Golffreunden gehört jedoch noch ein vierter. Vincent Ives jedoch ist eher ein Pechvogel, denn seine Frau Wendy will sich scheiden lassen, er verliert nach zwanzig Jahren seinen sicheren Job und am liebsten würde er sich von der Klippe stürzen. In diesem Moment kommt Jackson vorbei und fällt gleich mal mit Vincent gemeinsam in die Tiefe. Allerdings nicht so tief, dass beide es nicht überleben.
Kate Atkinson überrascht in vielen Szenen, aber auch Dialogen durch ihren schrägem Humor, den man in einem Kriminalroman mit diesen zutiefst verstörenden Themen vielleicht nicht vermutet hätte. Eine Figur hat die britische Autorin besonders in ihr Herz geschlossen und das ist die zweite Frau von Thomas Holroyd, Crystal. Sie residiert in einem großen Haus mit Kind und Stiefsohn und scheint keine Vergangenheit zu haben. Doch wenn sie ihre Sprache nicht kontrolliert, dann wird klar, dass sie bestens fluchen kann. Sie wird Jackson nachdem sie sich verfolgt und bedroht fühlt, engagieren. Allerdings wird sie ihm nichts zahlen, da sie am Ende die Drecksarbeit allein erledigt.
In gewisser Weise schafft Kate Atkinson es, dass das zahlreiche Personal ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art in die alten und neuen Missbrauchsfälle verwickelt ist.
Als die verhasste Wendy, die Frau von Vincent, die sich alles unter den Nagel gerissen hat, brutal ermordet wird, nimmt die Geschichte an Fahrt auf.
Kate Atkinson fordert ihre Leser auf jeden Fall heraus, denn es dauert doch ziemlich lang, ehe alle Zusammenhänge wirklich klar sind, die Geschichte Kontur erhält und die gesellschaftliche Kritik am Gebaren der mehr oder weniger cleveren Männer zu Tage tritt.