Mark Billingham: Was dich nicht umbringt, Aus dem Englischen von Stefan Lux, Atrium Verlag, Zürich 2021, 445 Seiten, €22,00, 978-3-85535-116-9
„Er wollte, dass der Junge sich da unten sicher fühlte, dass er sich zu Hause fühlte. Der Junge sollte wissen, dass er geliebt wurde.“
Detective Tom Thorne erinnert sich an einen Fall aus dem Jahr 1996, währenddessen die Fußballeuropameisterschaft in London ausgetragen wurde. Es ist auch das Jahr, in dem er sich von seiner Frau trennt und seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern kann.
Geplagt von Albträumen denkt er wiederum oft an einen Familienmord, der den von der Polizei nicht mehr behelligte Vater begangen hat. Thorne wusste intuitiv, als dieser Vater sich in der Polizeiwache von ihm verabschiedet hatte, dass er der Schuldige war. Doch er hatte nicht gehandelt, die Indizien reichten nicht aus.
Und nun wieder ein Kind, das gesucht wird. Der siebenjährige Kieron hat mit seinem besten und einzigen Freund Josh in Highgate Wood gespielt. Einen Augenblick hat Joshs Mutter Maria Ashton die tobenden Jungen aus den Augen verloren, Kierons Mutter Catrin Coyne wollte sich nur kurz einen Kaffee holen. Verstört und ziemlich verdreckt kehrt Josh zurück, und hat der Polizei nichts zu erzählen. Denkt er wirklich, dass sich Kieron immer noch im Wald versteckt? Was ist geschehen? Der gesamte Polizeiapparat wird in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wo der Junge sein könnte. Die Lesenden wissen inzwischen, dass Kieron lebt. Er ist bei einem Mann, den er kennt und dem er eigentlich nichts Schlimmes zutraut. Sicher ist sich Kieron aber nicht.
Maria Ashton fühlt sich schuldig. Sie und Catrin stammen gesellschaftlich aus sehr unterschiedlichen Schichten. Maria lebt momentan in Scheidung, denn ihr Ehemann Jeffrey, der als Arzt arbeitet, hat sich im Laufe der Ehe sehr zurückgezogen. Warum Josh so aggressiv und wütend gerade in der Schule auf Schwächere losgeht, kann die Mutter sich nicht erklären.
Kierons Vater Billy sitzt wegen eines Gewaltdeliktes momentan im Gefängnis. Seine Schwester Angie kümmert sich liebevoll um Catrin.
Als ein Zeuge aussagt, dass Kieron ohne Widerstand in einen roten Kleinwagen gestiegen ist, gibt es einen ersten Ansatzpunkt. Natürlich stürzt sich die Presse auf den Fall und bedrängt den Nachbarn von Catrin, der allerdings nicht schuldig ist und nach seiner Entlassung ermordet wird. Die verzweifelte Mutter gesteht Thorne dann endlich, dass Billy nicht der biologische Vater Kierons ist, sondern Dean Meade, der sich sieben Jahre nicht um das Kind geschert hat. Nun gibt er gegen hohe Zahlungen Interviews für dubiose Zeitungen. Und auch er geht seinem Mörder in die Falle.
Durch den Fall lernt Thorne den neuen ziemlich pampigen Pathologen Dr. Phil Hendricks kennen. Er sieht für einen Mediziner wirklich ungewöhnlich aus, eher wie der „Rausschmeißer bei einem Sister-of-Mercy-Konzert“. Gepierct und voller Tattoos wirkt der unkonventionelle Phil bei der Arbeit allerdings konzentriert und professionell. Thorne und er werden sich ein Fußballspiel ansehen und langsam Freunde werden.
Für die Lesenden werden die grausigen Details dieser Entführung nicht offenbart, eindeutig bleibt allerdings, dass es sich um einen schwer gestörten Täter handelt, der sicher als Kind selbst sexuellem Missbrauch ausgeliefert war und nie sprechen konnte. Die Idee, was mich nicht umbringt, macht mich umso härter, klingt sehr nach einer Vaterfigur aus einer älteren Generation.
Dass die wichtigste Information dann von Josh ohne ein Wort in Kierons Zeichnungen auftaucht, macht die Qualität dieses Romans aus.
Marc Billinghams Ermittler ist verletzbar, insbesondere, wenn seine Kollegen nicht gerade feinfühlig auf ihn losgehen. Doch man spürt beim Lesen, dass er mit Catrin, der Mutter des entführten Kindes, mitleidet, ihr nahe sein möchte, um Kieron endlich zu finden. Er darf im Krimi seine Eltern besuchen, seine Scheidung thematisieren und begründen, warum er seinen Hauskauf hinausschiebt. Er ist eine lebendige, überzeugende Figur. Genauso ambivalent und realitätsgesättigt sind alle anderen Figuren, die in dieser Handlung ihren Platz haben. Natürlich wollen die Lesenden wissen, wer hinter dieser Entführung steckt und klar ist, er stammt nicht aus dem Prekariat.